Zweifellos ist der Modernisierungsprozess eines der wichtigsten Themen der politischen Geschichte der Türkei. Dieser durchlief von Zeit zu Zeit sehr radikale Phasen. Die Geschichte der sozialen Spaltungen und Spannungen zwischen Säkularismus und Religion reicht lange zurück – und begann schon vor den gesellschaftlichen Veränderungen durch Atatürk. Die Debatte um die Hagia Sophia ist eng mit dieser Thematik verknüpft.
Osmanische Modernisten, die mit Beginn der Tanzimat-Periode von Europa beeinflusst wurden, verfolgten einen radikalen Positivismus und einen absoluten Säkularismus. Sie betrachteten diese beiden Prinzipien als Grundbedingung für die türkische Gesellschaft im Hinblick auf Modernisierung und gesellschaftlichen Fortschritt. Sie agierten dabei nach dem Modell der französischen Aufklärung, von der sie beeinflusst wurden. Die Transformationen dieser Zeit waren teilweise weitreichender als jene in Europa. Sie zielten darauf ab, die Religion vollständig zur Angelegenheit des Privatlebens zu machen. Daher sollte sie aus der Öffentlichkeit verdrängt werden.
Die wichtigste Funktion der Hagia Sophia, die nach der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen in eine Moschee umgewandelt wurde, bestand darin, der Stadt einen muslimisch-türkischen Antlitz zu geben, ihr eine neue Identität zu verleihen. Es war daher undenkbar, das Bauwerk weiterhin als Kirche zu erhalten.
Während des Säkularisierungsprozesses erfüllte die Hagia Sophia die gleiche Funktion. Die radikal-säkulare Generation in den Anfangsjahren der Republik zielte auf zwei Dinge ab, als sie das Gotteshaus in ein Museum verwandelte: der Welt die säkularistische Identität der jungen Republik vorzuführen und diese den zukünftigen Generationen ins Gedächtnis einzutrichtern! Denn die Hagia Sophia war auch im 20. Jahrhundert das symbolkräftigste Bauwerk der Stadt. So wurde sie Teil eines Paradigmenwechsels, der sich auch in Istanbul vollzog.
Die politische Elite der jungen Republik in den 30er Jahren hat fest daran geglaubt, dass Religion ein Konzept der Vormoderne ist und eines Tages komplett verschwunden sein wird. Sie haben diese Überzeugung nie verschwiegen. Aber in den Folgejahrzehnten haben sowohl die Türkei als auch die restliche Welt viele Wendepunkte erlebt, die mit Paradigmenwechseln verbunden waren: Der Zweite Weltkrieg führte zu einer großen Katastrophe; Adorno und Horkheimer schrieben die Dialektik der Aufklärung; die Türkei hat ein demokratisches Leben mit einem Mehrparteiensystem etabliert; Israel wurde gegründet; das zweite vatikanische Konzil erneuerte die Kirche, die als unveränderbar galt; die 68er-Bewegung hat die Welt tief geprägt; die Berliner Mauer stürzte ein - und Habermas brachte den Begriff „postsäkulare Gesellschaft“ ein! Für den radikalen Positivismus der 30er Jahre gibt es heute keinen Platz mehr auf der Welt - und Religionen bleiben auch in Zukunft bestehen.
Es gibt keinen überzeugenden Grund, das symbolträchtigste Monument Istanbuls als „säkulares Museum“ bestehen zu lassen. So wie alle Moscheen in Istanbul wird auch die Hagia Sophia weiterhin für Touristen zugänglich sein. Der Widerstand gegen das Vorhaben zeigt, dass einige immer noch nicht verstehen oder wahrhaben wollen, dass wir in einer postsäkularen Welt leben und Religionen ein untrennbarer Bestandteil dieser Welt sind. Es ist eine sinnlose und veraltete Debatte. Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist die logische Folge dieser Erkenntnis.
Zudem ist die Entscheidung der Türkei eine innerhalb ihrer Souveränitätsgrenzen getroffene. Diese Grenzen dürfen nicht von äußeren Akteuren überschritten werden. Es sollte kein Thema zwischen Türken und Europäern sein, sondern ein innergesellschaftliches: Es ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedlichen Epochen der türkischen Geschichte – zwischen radikal-säkularem und postsäkularem Zeitalter!