„Die einzige Sache, die wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, sagte der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt einst in seiner berühmten Antrittsrede. Doch gerade dieses Gefühl der Furcht wird in der Politik allzu oft zu einem Instrument, um Wähler zu beeinflussen und gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen. Statt auf Visionen und Lösungen zu setzen, bedienen sich heute viele Politiker der Ängste der Bürger – sei es die Angst vor dem Fremden, dem sozialen Abstieg, dem Krieg oder der ungewissen Zukunft.
Dieses Phänomen ist zwar nicht neu, hat aber in den letzten Jahren eine neue Intensität erreicht. Es stellt sich die Frage, wohin eine Gesellschaft steuert, deren politischer Diskurs von Angst und Panikmache geprägt ist.
Wirtschaftliche Existenzängste und Unzufriedenheit mit der Politik
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der R+V Versicherung mit dem Titel „Die Ängste der Deutschen“ hat ergeben, dass wirtschaftliche Sorgen die Menschen hierzulande seit 2022 am meisten beschäftigen. Steigende Lebenshaltungskosten oder die Frage, ob man sich die Wohnung noch leisten kann, stehen demnach ganz weit oben im Ranking der Ängste. So gaben 57 Prozent der Befragten an, Angst vor weiter steigenden Preisen zu haben (Platz eins). Zudem befürchten 52 Prozent der Deutschen, dass die Mieten zu teuer werden (Platz drei).
Laut der Studie ist aber auch das Vertrauen der Deutschen in die Politik massiv erschüttert worden. Die Unzufriedenheit mit der Politik ist hoch. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl befürchtetet fast die Hälfte der Deutschen, dass die Politik mit ihren Aufgaben generell überfordert ist (Platz sechs der Liste). „Die Politik muss diese Unzufriedenheit ernst nehmen“, betont die Marburger Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Isabelle Borucki, die die Studie beratend begleitet hat. Entsprechend schlecht fällt das Urteil über die politische Führung aus: 66 Prozent der Befragten geben den Vertretern von Regierung und Opposition die Schulnote vier oder schlechter - ein vernichtendes Urteil.
Extremistische Parteien profitieren von Angst vor Zuwanderung
Die Migrationsfrage bleibt ein zentrales Thema in Deutschland und rangiert auf Platz zwei der größten Sorgen. Mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) befürchtet, dass Gesellschaft und Behörden mit der Zahl der Flüchtlinge überfordert sein könnten. Weitere 51 Prozent äußern die Sorge, dass die weitere Zuwanderung aus dem Ausland zu gesellschaftlich-sozialen Spannungen führen könnte (Platz vier).
Auch nach Ansicht von Borucki sind die grundlegenden Herausforderungen im Bereich Zuwanderung und Integration in der Bundesrepublik über lange Zeit vernachlässigt worden. Gerade hier müsse die Politik dringend handeln, fordert die Expertin.
Doch die Realität zeigt: Anstatt sachliche Lösungen zu präsentieren, nutzen einige Parteien das Thema gezielt, um Ängste zu schüren und politische Vorteile zu erlangen. Sie stellen Migration häufig als Bedrohung dar, sprechen von Kontrollverlust und Überforderung – und schüren so gezielt Unsicherheiten in der Bevölkerung. Dies gefährdet nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern verhindert auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, Chancen, Vorteilen und Notwendigkeiten der Migration.
Aktuelle Studien sehen einen erheblichen Bedarf an Zuwanderung nach Deutschland. Von Ängsten profitieren jedoch vor allem extreme Parteien an den Rändern. Demokratische Parteien, die - bewusst oder unbewusst - Ängste vor Zuwanderung schüren, unterstützen damit eher die Extremisten.
Angst-Wahlkampf
„Schon vor 500 Jahren war die Strategie der Populisten: Ängste schüren und sie für eigene Zwecke missbrauchen. Heute hat diese Methode einen Höhepunkt erreicht“, schreibt der Ökonom und Politikberater Marcel Fratzscher in einem Beitrag mit dem Titel „Angst als Instrument der Macht“. Heißt das für heute, dass fast alle Spitzenkandidaten der demokratischen Parteien Populisten geworden sind?
Tragisch ist der Umstand, dass fast alle Parteien sich dieser Methode bedienen. Sie greifen die Unsicherheiten in der Bevölkerung auf und setzen auf einen Wahlkampf, der die Ängste der Menschen thematisiert. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz beispielsweise gibt sich derzeit als den „Friedenskanzler“ und verweist des Öfteren auf die Bedrohung durch die Nuklearwaffen von Russland. Die Presse, auch die internationale, wirft dem Kanzler vor, der „Angstmacherei“ durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht entgegenzutreten, sondern sie im Wahlkampf auszuschlachten.
Kritik aus allen politischen Lagern an Scholz‘ Haltung
Nicht nur aus den anderen Parteien der Mitte, sondern auch aus der eigenen SPD-Fraktion bekommt Olaf Scholz heftigen Gegenwind für seinen „Angst-Wahlkampf“. Kritik kommt auch von CDU-Chef Friedrich Merz, der dem Kanzler vorwirft, im Wahlkampf gezielt Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Er wirft Scholz vor, sich als „Friedenskanzler“ darzustellen und den anderen Parteien Besonnenheit abzusprechen. Der Kanzlerkandidat der Union behauptet, die SPD nutze die Angst der Bürger vor dem Krieg, um politisch zu punkten, und wolle damit von innenpolitischen Problemen wie der steigenden Arbeitslosigkeit ablenken. Selbst aus den Reihen der ehemaligen und jetzigen Koalitionspartner kommt Kritik:
Ähnlich wie Merz wirft auch FDP-Fraktionschef Christian Dürr dem Bundeskanzler vor, sich im Wahlkampf als „Friedenskanzler“ zu inszenieren. Es sei zynisch, dass Scholz den Krieg für politische Zwecke instrumentalisiere, gleichzeitig aber nicht bereit sei, der Ukraine im Winter die dringend benötigte Hilfe zukommen zu lassen. Harsche Worte muss sich Scholz auch von den Grünen anhören, die nicht mit Kritik sparen. Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, wirft dem Kanzler vor, „mit den Ängsten der Bevölkerung“ zu spielen, „um die Wahl zu gewinnen“. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel betont er: „Solch unverantwortliche Äußerungen, die letztlich nur Wladimir Putin in die Hände spielen, sind für uns Grüne als Koalitionspartner inakzeptabel.“
Auch die Grünen hantieren mit den Sorgen der Menschen
Scholz ist nicht der einzige Kanzlerkandidat, der mit den Ängsten der Deutschen spielt. Auch die anderen Kandidaten instrumentalisieren die Sorgen der Bürger für ihre politischen Zwecke. Die Grünen, einst als Friedenspartei bekannt, gelten längst nicht mehr als rein pazifistische Kraft. Seit sie unter der Führung von Joschka Fischer Ende der 1990er Jahre den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg unterstützt und später auch Auslandseinsätzen in Afghanistan zugestimmt haben, hat sich das Profil der Partei deutlich gewandelt. Zwar lehnte Rot-Grün den Irak-Krieg 2003 offiziell ab, doch unterstützte die Bundesregierung damals die Verbündeten logistisch und politisch, was auf Kritik stieß.
Heute dominiert bei den Grünen die realpolitische Strömung. Der Kurs der sogenannten Realos ist stark an euro-atlantische Interessen ausgerichtet. Im Wahlkampf betonen die Grünen zunehmend die Bedrohung der europäischen Sicherheit, insbesondere durch Russland. Manche sehen darin eine verstärkte Rhetorik, die Ängste vor militärischen Konflikten schürt und den Schwenk der Partei zu einer „realpolitischen“ Verteidigungsstrategie rechtfertigt.
Das heißt, auch die „Ökopartei“ macht da keine Ausnahme, um ihre politischen Ziele zu verfolgen. Besonders deutlich wird dies beim Thema Klimawandel: Die drohenden Folgen werden oft mit dramatischen Szenarien skizziert; Begriffe wie „Klimakatastrophe“ oder „Letzte Generation“ prägen den Diskurs. Die Dringlichkeit des Klimaschutzes ist zwar unbestritten. Allerdings werden bei diesem Punkt, ähnlich wie bei den Corona-Regelungen, einschneidende Maßnahmen und Verbote gefordert – und am Ende auch durchgesetzt.
Vergleichbar verhält es sich in der Debatte um die Energieversorgung. Dabei warnen die Grünen häufig vor Versorgungsengpässen oder Abhängigkeiten von autokratischen Staaten. Aber auch hier werden Ängste instrumentalisiert, um eine ideologisch gefärbte Energiewende voranzutreiben, ohne immer praktikable Alternativen aufzuzeigen oder Gegenvorschläge abzulehnen.
Instrumentalisierung von Ängsten durch die Post-Merkel-CDU
Ähnlich verhält es sich bei der Vorgehensweise von Friedrich Merz. Auch er spielt mit den Ängsten der Menschen in Deutschland, vor allem beim Thema Integration und Migration. Zum Teil schreckt die Union nicht davor zurück, die Positionen der AfD zu kopieren. Merz ist jedoch klug genug zu wissen, dass die Wähler eher das Original als die Kopie wählen würden. Bereits im Dezember 2023 hatte die CDU einen Entwurf ihres Grundsatzprogramms vorgelegt, in dem das Verhältnis zu den Muslimen in Deutschland verschärft wurde.
Auch der Begriff der „Leitkultur“ wurde wieder aus der Mottenkiste geholt. Bewusst griff die Partei antimuslimische Vorurteile und Ängste gegenüber dem Islam auf, die in Teilen der Gesellschaft vorherrschen, und stigmatisierte damit nicht nur eine bedeutende Religionsgemeinschaft in Deutschland. Nein, die CDU versuchte vielmehr, eine Minderheit gegen die Mehrheitsgesellschaft auszuspielen. Das ist schäbig. Das ist Populismus par excellence. „Ein solcher Populismus mag Identität und Zusammenhalt stärken, aber er löst keine Probleme, sondern schafft neue Konflikte“, sagt Fratzscher.
Energie für sozialen Zusammenhalt einsetzen
Ängstliche Menschen sind leichter zu manipulieren. Die Parteien, die derzeit mit den Ängsten der Bevölkerung spielen, tun dies vor allem, um ihre eigene Macht zu sichern oder auszubauen. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist diese Wahlkampfstrategie jedoch kaum von Nutzen. Deshalb sollten sich die demokratischen Parteien mehr um Inhalte und Lösungen kümmern, als ihre Energie für einen populistischen Angst-Wahlkampf zu vergeuden. Diese Wahlkampftaktik ist populistisch und scheinheilig.