von Ali Özkök
Allein in den Jahren 1960 bis 2007 hatte das türkische Militär fünf Mal gegen demokratisch gewählte Regierungen geputscht. Bis einschließlich 1980 waren diese Staatsstreiche auch von zum Teil erheblichem Blutvergießen begleitet. Die Generäle konnten sich dabei stets auf die Rückendeckung der Medien verlassen, weil sie schnell die Kontrolle über diese erlangen konnten.
Am 15. Juli 2016 hingegen hatten jene Anhänger der „Fetullahistischen Terrororganisation“ (FETÖ), die in die Streitkräfte eingesickert waren und damit rechneten, das Szenario bisheriger Putschbemühungen wiederholen zu können, ihre Situation falsch eingeschätzt – mit weitreichenden Folgen.
Der für TRT World tätige Medienforscher und Analyst für den Nahen Osten und die Arabische Welt, Tarek Cherkaoui, hat mit TRT Deutsch über die Bedeutung der Medien bei den Putschgeschehen der Türkei in der Vergangenheit und in der Gegenwart gesprochen.
Dabei arbeitete er ein systemisches Versagen westlicher Medien während des Putschversuchs von 2016 heraus und die Rolle, die soziale Medien spielten, als es darum ging, das Volk gegen die in den Militärapparat eingesickerten Terroristen auf die Straße zu bringen. Während einige westliche Medien bereits verbreiteten, der Putschversuch wäre gelungen und Präsident Erdoğan wäre auf dem Weg ins Exil, mobilisierte dieser tatsächlich die Menschen über Face-Time.
Wie haben die gülenistischen Strukturen die Medienarbeit des Westens in Bezug auf den Putschversuch 2016 beeinflusst?
Es ist bekannt, dass die gülenistischen Strukturen stark in drei Sektoren investiert hatten: Bildung, Handel und Medien. Manchmal werden diese Sektoren austauschbar verwendet, um die Pläne des gülenistischen Imperiums voranzutreiben. In der Folge war dieses Terrornetzwerk in der Lage, eine starke Präsenz in mehreren Ländern in Asien, Afrika, dem Nahen Osten sowie Nord- und Südamerika aufzubauen. Nur ein Beispiel, um die Tiefe seiner Durchdringung zu unterstreichen: Im Jahr 2014 leitete das FBI eine Untersuchung gegen die mehr als 130 Charter-Schulen der Gülenisten in den USA ein, für die diese seit 2010 mehr als zwei Milliarden Dollar an staatlichen Geldern erhalten hatten. Der Gruppe wurde (und wird) vorgeworfen, diese Gelder außerhalb ihrer gesetzlich vorgesehenen Bestimmung verwendet und damit dem Gülen-Netzwerk zugeführt zu haben.
In Bezug auf die Medien hatten die gülenistischen Strukturen vor dem Putschversuch 2016 ein Medienimperium in der Türkei (und international) mit weit verbreiteten Zeitungen, Zeitschriften, elf nationalen und internationalen Fernsehkanälen sowie Dutzenden von lokalen Fernsehsendern und Radiostationen aufgebaut.
Die Tatsache, dass die gülenistischen Strukturen über ein solches Medienimperium verfügten und Verbindungen zu hochgebildeten Diaspora-Kreisen und Geschäftsleuten hatten, verschaffte ihnen einen immensen Vorteil, wenn es darum ging, ihre Kontakte innerhalb der internationalen Medienwelt zu erweitern. Sie konnten Medienvertretern Gäste empfehlen, deren Denkweise über Bücher und digitale Publikationen beeinflussen, einige Intellektuelle dazu bringen, mit ihren Ansichten zu sympathisieren und Medienmaterialien produzieren, um Nachrichtenredaktionen zu beeinflussen.
All diese Manöver wurden jedoch von der Entschlossenheit des türkischen Volkes, das für Demokratie und Legitimität steht, übertroffen. Die Menschen in den sozialen Medien entlarvten alle Mythen und Unwahrheiten, die von diesem Untergrund-Terrornetzwerk in Umlauf gebracht wurden. Die Rolle der Mitarbeiter von TRT World war auch wichtig, da sie den Feed über das Londoner Büro hielten. Die Putschisten vergaßen, dass dies nicht mehr das 20. Jahrhundert war, in dem sie den Mediendiskurs monopolisieren konnten. Dies ist das 21. Jahrhundert, in dem die sozialen Medien allen Bürgern Raum geben, ihre Meinung zu äußern. Als die westlichen Mainstream-Medien sich auf die Seite der Putschisten stellten und deren Versuch einer illegalen und gewaltsamen Machtergreifung rechtfertigten, befleckte diese Haltung nur den Ruf dieser Medien.
Inwiefern unterschied sich der Tenor der Berichterstattung über den Putschversuch vom 15. Juli 2016 von derjenigen in den Jahren 1960, 1971, 1980 oder 1997 (bzw. dem „E-Memorandum“ von 2007)? Glauben die westlichen Medien wirklich, dass die Türkei unter der Vormundschaft des Militärs freier gewesen wäre?
Verschiedene Studien zeigen, dass die westliche und insbesondere die amerikanische Nachrichtenberichterstattung über bestimmte ausländische Ereignisse dazu neigt, die Politik der US-Regierung zu propagieren.
Wir sollten nicht vergessen, dass die meisten Putsche in der Türkei (1960, 1971, 1980) während des Kalten Krieges stattfanden. Die Medienberichterstattung unterstützte damals im Allgemeinen die Militärputsche, weil man befürchtete, dass andernfalls die Kommunisten die Oberhand gewinnen könnten. Aus diesem Grund wurden die Militärs in den westlichen Medien positiv dargestellt, da sie angeblich das Richtige für das Land und die NATO-Allianz taten.
Die westliche Medienberichterstattung über den Putschversuch vom 15. Juli 2016 war unausgewogen, unprofessionell und tendierte dazu, die Putschisten zu unterstützen. Anfänglich verkündeten einige amerikanische Medien sogar eine erfolgreiche Machtübernahme durch das Militär. Später änderten sie ihr Framing und begannen, den Putschversuch als inszeniert und gefälscht darzustellen. Danach begannen sie, Erdoğan zu verunglimpfen und zu behaupten, dass die Menschenrechte der Putschisten untergraben würden.
Die „New York Times“ ging sogar so weit, die türkischen Anti-Putsch-Demonstranten zu verleumden, indem sie twitterte, dass „diejenigen, die in der Türkei auf die Straße gingen, meist religiöse Slogans zur Unterstützung Erdoğans riefen, nicht für die Demokratie selbst“. Diese Kehrtwende und der abrupte Wechsel des Framings legen nahe, dass die westlichen Medien den Faden verloren haben. Ihre leitenden Angestellten glaubten wahrscheinlich, dass nach einem erfolgreichen Putsch zur Tagesordnung übergegangen würde. Sobald klar wurde, dass die Putschisten besiegt waren, waren diese Medienmanager verwirrt und wussten nicht, welchem Drehbuch sie nun folgen sollten. Daher begannen sich Widersprüche zu zeigen.
Zum Beispiel ist die Ausrufung des Ausnahmezustands eine Standard-Sicherheitsmaßnahme, wenn es erhebliche Sicherheitsbedrohungen gibt. Die USA haben beispielsweise nach den Unruhen auf dem Capitol Hill in Washington (Januar 2021) den Ausnahmezustand ausgerufen. Das Gleiche gilt für Frankreich, das nach dem Anschlag in der Stadt Nizza zu dieser Maßnahme gegriffen hatte. Keine westlichen Medien sahen in diesen Maßnahmen irgendeine autoritäre Tendenz.
Wenn es jedoch um die Türkei geht, zeigten sich diese Medien peinlich berührt. Der Ausnahmezustand war unausweichlich, da die Türkei gerade einen Putschversuch erlebt hatte.
Tausende von bewaffneten Männern, die einer illegitimen Organisation angehörten, setzten Kampfjets, Panzer und Hubschrauber ein und bombardierten das Parlament und verschiedene Sicherheitsgebäude. Sie hatten auch mit Gewalt versucht, die wichtigsten Kommando- und Kontrollstrukturen in Istanbul und Ankara zu besetzen. Die westlichen Mainstream-Medien waren jedoch auf den Ausnahmezustand fixiert und stellten die Situation auf den Kopf. Anstatt die Schwere der Sicherheitsbedrohung anzuerkennen, stellten sie diese Maßnahme als undemokratisch dar.
Anstatt das aufrichtige Bekenntnis des türkischen Volkes zur Demokratie zu feiern, entschieden diese Medien, dass dessen Ermächtigung auf „populistische“ und „dschihadistische“ Kräfte in den Straßen zurückzuführen wäre. Eine solche unethische und unprofessionelle Berichterstattung lässt die Tatsache außer Acht, dass sich alle großen politischen Parteien gegen den Putschversuch stellten und später gemeinsam eine Kundgebung abhielten, um die Niederlage der Putschisten zu feiern.
Zeigt die Reaktion des Westens auf den Putschversuch, dass autoritäre Herrscher und Diktaturen, die westliche Narrative nicht in Frage stellen, den dortigen Regierungen und Medien im Zweifel willkommener sind als Demokratien, die ihren eigenen Willen entwickeln?
Die Falschdarstellung dieses wichtigen Ereignisses durch renommierte westliche Medien wie die New York Times (USA), den Economist (Großbritannien) und den Spiegel (Deutschland) erreichte in ihrer Berichterstattung über den Putschversuch ihren Tiefpunkt. Sie erkannten nicht, dass das türkische Volk eine existenzielle Bedrohung der Demokratie vereitelt hatte.
Zumindest hätte man von diesen repräsentativen demokratischen Medien erwartet, dass sie eine Grundsatzerklärung veröffentlichen, die für die Demokratie eintritt und den Putschversuch verurteilt. Idealerweise hätten sie den Heldenmut des türkischen Volkes feiern sollen, das das gewaltsame Komplott vereitelt hat.
Der Hauptgrund für die irreführende Berichterstattung der westlichen Medien über den gescheiterten Putschversuch war deren Unfähigkeit oder ihr Unwillen, zu akzeptieren, dass konservative Teile der Bevölkerung in einem überwiegend muslimischen Land die Demokratie gerettet haben, indem sie gegen eine aufkommende Militärdiktatur kämpften. Diese Unfähigkeit oder Abneigung beruht auf der islamophoben Annahme, dass konservative Massen in muslimischen Ländern von Natur aus antidemokratisch wären.
Unnötig zu sagen, dass diese Annahme nicht nur falsch, sondern auch rassistisch ist, denn dieselben Medien loben den Kampf für demokratische Rechte von religiös inspirierten afroamerikanischen Protestanten oder die „Befreiungstheologie“, die von lateinamerikanischen Katholiken vertreten wird, die für die Demokratie in ihren Ländern kämpfen. Aber wenn es um Muslime geht, die für die Demokratie kämpfen, kann der islamophobe Geist ein solches Konzept nicht aufnehmen.
Welche Rolle spielten die türkischen Medien im Vorfeld und am Abend des Putsches und welchen Einfluss hatte dies auf den Verlauf der Ereignisse? Wie unterschied sich dies von früheren Putschversuchen in der Türkei?
1960 gab es in der Türkei kein Fernsehen, sondern nur staatlich betriebene Radiostationen. Die Junta beschlagnahmte damals prompt diese Sender. Da es keine Tradition des Widerstands gegen die Armee gab, fügten sich auch alle überregionalen Tageszeitungen der Linie und applaudierten meist dem Putsch. Einige dieser Zeitungen griffen sogar zu noch schmutzigeren Tricks wie der Verbreitung von Fake-News über die Demokratische Partei (DP), die 1950 die ersten wirklich freien Wahlen gewann und die Türkei ein Jahrzehnt lang regierte. Die von den Tageszeitungen nach dem Putsch verbreiteten Fake-News zielten darauf ab, die DP-Politiker zu delegitimieren, um die Öffentlichkeit gegen sie aufzubringen und den Putsch zu legitimieren.
Die Medienleistung im Jahr 1980 war wie 1960. Die Junta beschlagnahmte und kontrollierte TRT und machte diesen wichtigen öffentlichen Sender zu ihrem Sprachrohr. Alle Aussagen und Erklärungen wurden im Radio verkündet, einschließlich der Dekrete und Verordnungen des Kriegsrechts im ganzen Land. Währenddessen hielt der Militärputsch vom 12. September 1980 auch die Print- und Rundfunkmedien unter strenger Kontrolle, um jegliche Gegendarstellungen zu verhindern.
Die Vorbereitung des „postmodernen“ Putsches von 1997, wie er in der Türkei gemeinhin genannt wird, war zuweilen eine Farce. Die türkischen Medien folgten der Linie der Junta. Sie fingen an, mit negativen Schlagzeilen über einige marginale Sekten hausieren zu gehen, verbreiteten Gerüchte über deren „Abweichung” und schürten allgemein säkularistische Stimmungslagen, um den Boden für eine militärische Intervention zu bereiten. Viele solcher Manipulationen wurden später als Fake-News entlarvt.
Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 war anders, weil das FETÖ-Terrornetzwerk den öffentlich-rechtlichen Sender TRT übernahm und seine Botschaften von dort aus verbreitete. Allerdings hatte dieses messianische Untergrundnetzwerk kein Monopol auf die Informationslandschaft. Nachdem sie ihren Fehler eingesehen hatten, versuchten sie später, die breitere Telekommunikationsinfrastruktur zu stören und griffen die staatlichen Satellitenkommunikationsnetzwerke Turksat und Digiturk an. In der Zwischenzeit versuchte eine Gruppe von Soldaten auch, den privaten Fernsehsender CNN Türk zu übernehmen, aber sie scheiterten kläglich, weil dieser Schritt nicht zu ihrem ursprünglichen Plan gehörte und sie schlecht darauf vorbereitet waren.
Das Scheitern bedeutete, dass sie ihr Narrativ nicht unangefochten vermitteln konnten. Dies war ein anderes Jahrhundert, in dem die Medien allgegenwärtig und die sozialen Netzwerke für jeden offen zugänglich waren. Der damalige türkische Premierminister „face-timte“ mit dem Journalisten von CNN Türk, um den Putsch anzuprangern, der im Gange war. In dieser Nacht wandte sich Präsident Erdoğan durch die iPhone-Kamera des CNN-Türk-Redakteurs an die Nation. Präsident Erdoğan nutzte die FaceTime-Funktion seines Smartphones, um die Türken aufzufordern, „auf die Straße zu gehen und den Putschisten ihre Antwort zu geben“. Dieses Gespräch löste den Widerstand aus und initiierte die Mobilisierung des türkischen Volkes gegen den Putsch.
Die öffentliche Sphäre mobilisierte effektiv gegen den Putschversuch, und das Medien-Ökosystem folgte diesem Beispiel. Die Menschen in den sozialen Medien äußerten frenetisch ihre Abscheu vor jeglicher Militärherrschaft. Eine Untersuchung von Tweets zwischen dem 15. und 19. Juli zeigte, dass es fast 20,5 Millionen Tweets über den gescheiterten Putsch in der Türkei gab. Diese Massenmobilisierung des türkischen Volkes für die Demokratie und gegen die Machtübernahme durch das Militär machte einen großen Unterschied und trug dazu bei, den Putsch im Gericht der öffentlichen Meinung zu besiegen.
Vielen Dank für das Gespräch!