Der Nato-Abzug aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban haben eine Fluchtbewegung ausgelöst, die noch andauert. Tausenden Afghanen versuchen seit Wochen, das Land zu verlassen. Der Fall der Hauptstadt Kabul hat diesen Prozess weiter beschleunigt. In Deutschland ist die Flüchtlingsfrage somit wieder auf der Tagesordnung – aber auch Wahlkampfthema? Jedenfalls hat sich das politische Klima gegenüber Flüchtlingen in den letzten Jahren deutlich gewandelt.
Bereits jetzt wird vor einem möglichen Zustrom afghanischer Flüchtlinge gewarnt und an die Flüchtlingskrise von 2015 erinnert. Mit dem Slogan „Wir schaffen das!“ hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel damals die deutschen Grenzen offen gehalten. Es kamen fast eine Millionen Geflüchtete ins Land – vor allem aus Syrien. Seit der Schließung der Balkanroute und dem EU-Türkei-Abkommen ist es aber unwahrscheinlich, dass die sogenannte Flüchtlingswelle Deutschland erreicht.
Diese Entwicklung macht sich auch an den Zahlen bemerkbar: Nach der ersten Flüchtlingswelle sind die Asylerstanträge deutlich zurückgegangen. Dennoch herrscht bei vielen Deutschen die Sorge, dass sich nun ein ähnliches Szenario wie 2015 abspielen könnte.
„Kanzlerin Merkel ist eine Heldin“
Anas Modamani ist einer der zahlreichen Syrer, die sich 2015 in Deutschland niedergelassen haben. Inzwischen hofft er darauf, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Doch auch er ist besorgt. Er befürchtet, dass die Afghanistan-Krise die deutschen Wähler gegen die Flüchtlinge aufbringen und die nächste Regierungskoalition zu einer härteren Politik verleiten könnte.
„Ich mache mir Sorgen darüber, welche Einwanderungspolitik auf uns zukommen wird, wenn Merkel nicht mehr Kanzlerin ist“, erzählte der 24-Jährige in einem am Montag veröffentlichten Interview mit Reuters.
Modamani ist eine kleine Berühmtheit. Der Syrer posierte im September 2015 mit Merkel vor einer Berliner Flüchtlingsunterkunft für ein Selfie. Das Foto ging Viral. Modami bezeichnete die Bundeskanzlerin wegen ihrer Öffnungspolitik als „Heldin“.
Von „Wir schaffen das!“ zu „Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen“
Sein Foto mit Merkel wurde zum Symbol für die Migrationspolitik der Kanzlerin – die sie einiges an politischem Kapital kostete. Ihre Partei will dieses Szenario kurz vor der Bundestagswahl nicht wiederholen. Die Union macht deutlich, dass es eine Kehrtwende geben wird. „Wir dürfen die Fehler von 2015 nicht wiederholen“, sagte zuletzt Kanzlerkandidat Armin Laschet mit Blick auf die damaligen Flüchtlingsbewegungen aus Syrien nach Europa – noch während sich dramatische Szenen in Kabul abspielten.
Die Haltung der Union ist nicht verwunderlich. 2015 sind europaweit rechte Positionen erstarkt. Einige Parteien schafften mit rechtspopulistischen Wahlkampfversprechen den Einzug in die Parlamente oder wurden wiedergewählt.
Die Flüchtlingsfrage bleibt bis heute ein aktuelles Thema der Politik. Inzwischen lassen sich in Europa selbst Mitte-Links-Parteien finden, die sich klar für eine strengere Flüchtlingspolitik aussprechen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die dänische Regierung der Sozialdemokraten, die seit Mai Flüchtlinge nach Syrien abschieben lässt.
Zwei Drittel der Deutschen fürchten eine Wiederholung von 2015
Während 2015 noch tausende Bürger die geflüchteten Syrer am Münchner Hauptbahnhof willkommen hießen, schaut es heute deutlich anders aus. Von „Wir schaffen das!“ ist nicht viel übrig geblieben. Das zeigen aktuelle Umfragen.
Eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Civey von letzter Woche ergab, dass zwei Drittel der Deutschen eine Wiederholung von 2015 fürchten. Vor allem AfD-Anhänger gaben an, Sorgen vor einer erneuten „Flüchtlingswelle“ zu haben. Aber auch drei Viertel der Wähler von Union und FDP lehnen eine ähnliche Flüchtlingssituation in Deutschland wie vor sechs Jahren ab
Die Parteien der Mitte halten sich mit Aussagen zu diesem Thema vielleicht genau deshalb zurück. Selbst über die afghanischen Ortskräfte, denen Schutz in EU-Ländern versprochen wurde, spricht die Politik nur verhalten.
Wie wird Flucht und Migration den Wahlkampf beeinflussen?
Inwieweit Themen wie Flucht und Migration schlussendlich die Bundestagswahlen beeinflussen werden, bleibt ungewiss. Sicher scheint nur, dass sich kaum ein Politiker trauen wird, sich für eine lockere Flüchtlingspolitik auszusprechen.
Modamani selbst scheint von diesem Trend noch nichts mitbekommen zu haben. Er schätzt die Forderung nach strengen Grenzkontrollen und Abweisung von Flüchtlingen als eine Position von rechtspopulistischen Parteien wie die der AfD ein.
Wenn er wählen könnte, erzählt der junge Syrer, würde er Laschet wählen – weil er ein toller und offener Mensch sei. „Er ist genauso ähnlich wie Frau Merkel. Ich wünsche mir, dass er später mal gewinnen wird."