Türkiye-Wahlen: Andrang vor Wahllokalen in Deutschland nach Einschränkung / Photo: AA (AA)
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Bei der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahlen am 14. Mai sicherte sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan 57,47 Prozent der Stimmen im Ausland – weit mehr als in Türkiye mit 49,52 Prozent. Besonders die Stimmenanteile in europäischen Ländern wie Deutschland und Österreich sind auffällig. In Deutschland errang Erdoğan insgesamt 65,49 Prozent der Stimmen, in Österreich sogar 71,96 Prozent. In Nachbarländern wie Frankreich, Niederlande und Belgien ergab sich nach der Auszählung der Stimmen ein ähnliches Bild. Wie lässt sich das Phänomen erklären, dass türkische Staatsbürger im Ausland eine derartig große Unterstützung für den türkischen Präsidenten zeigen?

Eines vorab: Bei den meisten europäischen Ländern sorgt es zwar für Erstaunen und teilweise sogar Unverständnis, doch für türkische Bürger im Ausland, egal für welche Partei sie stimmen oder welche ideologische Strömung sie befürworten, kommt es nicht in Frage, sich von den politischen Debatten in der Heimat abzukoppeln. Türkische Staatsbürger, die im Ausland leben, zeigen ein bemerkenswertes Interesse an der politischen Richtung ihrer Heimat, auch wenn sie dort nicht leben. Für viele sind die politischen Geschicke von Türkiye mindestens so wichtig wie die Entwicklungen in Deutschland oder Österreich, wenn nicht sogar viel wichtiger.

Türkische Wähler im Ausland: Überwiegender Teil stimmt für Erdoğan

Ein Grund dahinter ist zweifelsohne das Zugehörigkeitsgefühl und die darauf bezogenen teils negativen Erfahrungen türkischer Bürger in Deutschland und Österreich. Für Österreich spricht Dr. David F. J. Campbell, Associate Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Wien, gegenüber TRT Deutsch von einer „vielschichtigen Gemengelage”. Als These für den hohen Stimmenanteil von Erdoğan in europäischen Ländern werde aufgestellt, „dass es eventuell darum gehen mag, wie gut oder eben wie nicht gut sich Türkinnen und Türken in den verschiedenen europäischen Ländern integriert fühlen”. An dieser Stelle bezieht sich der Experte auf „Aufenthaltsrechte oder Möglichkeiten des Erwerbs von Staatsbürgerschaft”.

In Österreich ist der Erwerb der doppelten Staatsbürgerschaft grundsätzlich verboten, in Deutschland werden bei diesem Thema immer noch Generationen von Türken benachteiligt. Erst ein von der Ampel-Koalition geplantes neues Einbürgerungsgesetz könnte die Benachteiligung beseitigen. Für viele Türken ist der türkische Pass dabei ein Ausdruck ihrer nationalen Identität, weshalb sie ihre Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollen. Der „Zwang” von Behörden in europäischen Ländern, ihre türkische Staatsbürgerschaft und somit auch Identität zugunsten der europäischen Staatsbürgerschaft aufzugeben, ist für das Gefühl der Zugehörigkeit im jeweiligen europäischen Land nicht gerade hilfreich. Die falsche Erwartung an türkische Staatsbürger, im Namen der Integration die Bindung zur Heimat zu kappen, distanziert Türken etwa in Deutschland und Österreich noch stärker von diesen Ländern und bekräftigt stattdessen die emotionale Bindung zu Türkiye. Campbell zufolge „haben Türkinnen und Türken das Gefühl, dass ihnen […] ein ‚kritischer Wind’ entgegenschlägt, so könnte sie das unter Umständen veranlassen, in Reaktion darauf vermehrt Erdoğan zu wählen.”

Schließlich setzt sich die türkische Regierung unter Präsident Erdoğan stets auch für die Rechte und Interessen türkischer Staatsbürger im Ausland ein, vor allem in Deutschland und Österreich. In seiner Amtszeit wurde beispielsweise 2010 das Amt für Auslandstürken (YTB) gegründet, ein organisierter staatlicher Ansprechpartner für Türken im Ausland. Das führt dazu, dass sich Türken im Ausland stärker an Präsident Erdoğan binden, der sich um sie sorgt, sich für sie engagiert, ihre Stimmen hörbar macht und nicht zulässt, dass sie in Vergessenheit geraten, während sie in den europäischen Ländern, in denen sie leben, ständig mit Schwierigkeiten konfrontiert werden.

Türken im Ausland mit mehr Selbstbewusstsein: Stolz auf Türkiye, Stolz auf Erdoğan

Der freie Journalist M. Teyfik Özcan hält auch die Aufwertung von Türkiye in verschiedensten Gebieten für einen Grund dafür, warum Türken in Europa für Präsident Erdoğan stimmen. „Die wirtschaftliche, politische und militärische Stärke von Türkiye ist zurückzuführen auf eine erfolgreiche Politik der Erdoğan-Regierung der letzten 20 Jahre”, betonte er gegenüber TRT Deutsch. Dies habe Türkiye zu einer „ernstzunehmenden Regionalmacht” gemacht. Tatsächlich ist Türkiye in der Ära Erdoğan mit diplomatischen Initiativen und vor allem der Rüstungsindustrie zu einem vielfach wichtigeren Staat geworden, sowohl auf regionaler als auch globaler Ebene.

Die Zeiten, „in denen türkische Politiker in Europa in der Prioritätenliste nicht weit oben standen”, seien vorbei. Stattdessen würden sie nun „hofiert, und man begegnet sich auf Augenhöhe”. Dieser „Paradigmenwechsel”, wie Özcan ihn beschreibt, steigert auch das Selbstwertgefühl sowie das Selbstbewusstsein europäischer Türken. Denn nun steht kein unbedeutender, schwacher Staat hinter ihnen, sondern ein Staat, das überall auf der Welt mit Respekt und Achtung behandelt wird. Die Türken in Europa würden ferner von Erdoğans Leistungen profitieren, der sich ihrer Probleme annehme, so Özcan. Schließlich hat Erdoğan ihnen ab 2014 auch das Wahlrecht geschenkt – ein Recht, das jeder türkischer Staatsbürger, egal wo man sich aufhält, haben sollte. Denn wie bereits unterstrichen: Anders als die Staatsbürger anderer Länder wollen sich Türken in Europa keineswegs von den Geschehnissen in ihrer Heimat abkoppeln.

Dass Türkiye nun ein deutlich stärkeres Auftreten gegenüber westlichen Ländern zeigt und sich jetzt auf Augenhöhe mit ihnen befindet, sorgt für ein Gefühl von Stolz bei den eigenen Bürgern im Ausland. „Präsident Erdoğan hat etwas geschafft, was vor ihm niemand erreicht hatte: Als Bürger der Republik Türkiye fühlt man sich stolz, man ist nicht eingebildet oder egozentrisch, hat aber mittels einer 20-jährigen Reformstrategie und dem Ende der Isolation im außenpolitischen Bereich an Statur, Einfluss, Wohlstand und Lebensqualität gewonnen”, betonte Journalist und Politikanalyst Klaus Jürgens gegenüber TRT Deutsch. Hinzu kommt, dass die meisten Wähler in Deutschland und Österreich aus eher konservativen Verhältnissen aus Anatolien stammen. Diese Menschen sind nicht nur auf Türkiye, sondern auch auf Erdoğan als Person stolz, der ebenfalls aus einfachen sowie konservativen Verhältnissen heraus weltweit einer der einflussreichsten Politiker wurde. Nach Jahrzehnten einer überwiegend säkularen Herrschaft gilt Erdoğan als ein Vorbild für konservative Schichten, der ihnen Luft zum Atmen gab und mit dem sie sich identifizieren können.

Türken im Ausland: Westliche Attacken gegen Türkiye versammeln sie um Erdoğan

Türken im Ausland erleben außerdem alltäglich etwa eine Berichterstattung, die die Perspektiven von Türkiye und Türken bei wichtigen Themen komplett vernachlässigt und sie gewissermaßen als unwichtig im Vergleich zu westlichen Sichtweisen erachtet. Türkische Staatsbürger in Europa nehmen diese realitätsferne, nicht objektive und teils sogar heuchlerische Haltung westlicher Medien und der Politik wahr und würdigen die Anstrengungen der Regierung von Präsident Erdoğan, der Widerstand leistet und sich trotz allem nicht beugen sowie unterkriegen lässt. Denn mit Erdoğan hat sich das Blatt gewendet. Ohne Türkiye zu beachten, können viele kritische, außenpolitische Themen nicht mehr vollständig erfasst werden. Westliche Länder müssen sich nun – ob sie es wollen oder nicht – mit Türkiye befassen. Der Ukraine-Konflikt ist hierbei eines der aktuellsten Beispiele.

Auch für Dr. Selçuk Aydın, Dozent an der Boğaziçi Universität in Istanbul, ist die westliche Haltung einer der Gründe für den hohen Stimmenanteil von Präsident Erdoğan unter Türken in der Diaspora. Der „durchschnittliche europäische Bürger und vor allem die Politiker” würden sich mit Blick auf die Wahlen in Türkiye „politisieren”, erklärte Aydın gegenüber TRT Deutsch. Hinter dem „intensiven Medienbombardement” in Europa verberge sich eine „reine Rivalität gegen Erdoğan”.

Damit aber nicht genug. Das starke politische Oberhaupt von Türkiye, in diesem Fall Erdoğan, werde somit „aus historischer Perspektive als Sultan gekennzeichnet und ausgegrenzt”, so Aydın. Vor dem Hintergrund der orientalistischen Perspektive erzeugen westliche Medien und Politiker für Türkiye ein bestimmtes Bild: Europa nimmt mit diesem Ansatz Türkiye als ein Land mit einem „feindlichen Charakter“ wahr. Diese Wahrnehmung wird von westlicher Seite instrumentalisiert, um gegen türkische Interessen vorzugehen.

Genau deshalb unterstützen Türken im Ausland den türkischen Präsidenten, denn die Attacken vermitteln die Wahrnehmung, dass über Erdoğan Türkiye als Ganzes angegriffen wird. Daher fühlen sich die meisten türkischen Staatsbürger dazu verpflichtet, Präsident Erdoğan in Schutz zu nehmen und ihn mit ihren Stimmen zu unterstützen. Westliche Attacken gegen den türkischen Staatschef und Türkiye konsolidieren Erdoğans Wählerbasis in Europa. „Von daher wählen sehr viele eher oppositionell eingestellte Menschen oftmals Erdoğan, da er ihnen ein neues Selbstwertgefühl vermittelt”, so Jürgens, der eine fehlende Objektivität bei internationalen Medien bezüglich Türkiye bemängelt. Die „starke Führung und Repräsentierungsfähigkeit” des türkischen Präsidenten, wie Aydın es definiert, dürften bei der Wahlentscheidung dieser Menschen nochmal zusätzlich nachhelfen.

Denn in einem Punkt sind sich die meisten einig, sogar internationale Medien, die den türkischen Präsidenten sonst frontal anprangern: Erdoğan hat ein ausgeprägtes Charisma, über das nur wenige führende Politiker der Welt verfügen. Diese Eigenschaft zieht besonders Türken im Ausland an, die sich nach einer starken Heimat sehnen.