TRT Deutsch sprach mit dem russischen Historiker Prof. Oleg Kuznetsov. Er ist Autor des Buchs „Geschichte des transnationalen armenischen Terrorismus im 20. Jahrhundert: historisch-kriminologische Forschung“ und verfasste etwa 170 wissenschaftliche Studien.
Die türkische Regierung unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Erdogan hat eine gemeinsame Historikerkommission vorgeschlagen und gefordert, dass die armenischen Archive für internationale Forscher geöffnet werden. Armenien weicht diesem Thema aus und unterwirft sich auch nicht der Forderung, seine Archive zu öffnen. Warum, glauben Sie, wehrt sich Armenien dagegen?
Die Antwort ist sehr einfach. Schauen Sie sich nur die Titel der Bücher von armenischen Autoren über ihre eigene Geschichte in der Neu- und Neuesten Zeit an (Entschuldigung, ich bin von meiner Methodik der wissenschaftlichen Suche her Marxist, deshalb benutze ich die von Marx vorgeschlagene Chronologie der historischen Epochen). Sie werden keine Arbeit über die Geschichte des armenischen Staates finden, mit Ausnahme jener zwei Jahre der von Daschnaken geführten Republik Armenien sowie der modernen Republik Armenien, aber Sie werden eine Menge von Publikationen über die Geschichte des armenischen Volkes finden. Als Historiker verstehe ich sehr gut, dass Archive nur durch eine mächtige offizielle Instanz wie Staat oder Kirche oder zumindest eine starke und lang etablierte politische Partei organisiert werden können. Das Volk als Aggregat von Individuen, selbst wenn es sich selbst organisiert oder von außen zu einem „Millet“ zusammengeschlossen hat, ist nicht in der Lage, das Archivwesen in großem Maßstab zu organisieren und ein System von Archivinstitutionen zu etablieren. Dokumente über seine Geschichte müssen in den Archiven der Länder gesucht werden, unter deren externer Kontrolle es stand.
Deshalb ist es meines Erachtens in der Frage des berüchtigten „Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich“ heute sinnlos, an die armenischen Behörden zu appellieren, ihre Archive zu öffnen. Sie haben nicht, und wenn doch nur in spärlicher Menge, die Dokumente darüber, bestenfalls Fragebögen jener etwa 150.000 Flüchtlinge, die während des Ersten Weltkrieges auf das Territorium des Russischen Reiches im Kaukasus zogen. Man sollte einen Dialog mit den Behörden Georgiens führen, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR das Archiv des zaristischen Vizekönigs im Kaukasus und des Hauptquartiers der Kaukasusfront geerbt hat. Mit den russischen Behörden, in deren Besitz sich jetzt das Archiv des kaiserlichen Außenministeriums befindet, das jetzt in das Archiv der Außenpolitik umgewandelt wurde. Man sollte Verhandlungen mit ähnlichen Strukturen Bulgariens, Griechenlands, Großbritanniens, Frankreichs führen, für deren geopolitische Interessen in jenen Jahren die armenischen Nationalisten arbeiteten. Schuldscheine, Berichte über die geleistete Arbeit, Kostenvoranschläge werden von den Auftraggebern in ihren Archiven aufbewahrt, um nachzuvollziehen, in welcher Höhe die Ausgaben durch den neu erzielten Gewinn zurückgezahlt wurden, nicht aber von den Auftragnehmern. Kanonenfutter und Kriminelle brauchen echtes Bargeld, keine schriftlichen Beweise für ihre kriminellen Aktivitäten, die sie auf das Schafott führen würden.
Dies wird übrigens sehr gut in dem Film „Lawrence von Arabien“ unter der Regie von David Lynn gezeigt, den ich jedem empfehle, der sich für die Rebellion kleiner, von fremden Mächten gekaufter Völker innerhalb des Osmanischen Reiches interessiert. Es zeigt zwar nur ein Segment: die Araber gegen die Osmanen mit britischem Geld, aber es gab auch andere Segmente – die Assyrer oder Aysors gegen die Osmanen mit britischem Geld, die Armenier gegen die Osmanen mit russischem und französischem Geld, die Griechen gegen die Osmanen mit russischem, britischem und italienischem Geld. Es ist möglich, dass ich in dieser Liste etwas übersehen habe. Tatsache ist aber, dass die armenisch-osmanische Konfrontation während des Ersten Weltkrieges nur ein Faden im Gewirr der Widersprüche innerhalb des Osmanischen Reiches während des Ersten Weltkrieges ist.
Zweifellos ist jeder Faden dieses Gewirrs grundlegend wichtig für die Geschichte der modernen Türkei. Aber es ist unwissenschaftlich und unmenschlich und irgendwie sehr populistisch und voreingenommen, nur einem von ihnen eine exklusive Bedeutung zu geben. Es zeigt sofort das Vorhandensein einer politischen oder sogar geopolitischen Konjunktur, deren Hauptaufgabe nicht die Offenlegung, sondern die Verschleierung der historischen Authentizität ist.
Die Türkei ist inzwischen wirtschaftlich stark genug, um eine Auseinandersetzung über ihre Geschichte führen zu können. Am 20. April 2021 nahm ich als einer der Plenarsprecher an einer internationalen Konferenz über die Ereignisse im Osmanischen Reich 1915 teil, die vom Amt für Kommunikation der Türkischen Republik organisiert wurde. Ich mag keine Zoom-Konferenzen, da ich dabei die Atmosphäre des Saals und die Energie des Publikums nicht spüren kann. Aber ich habe aus der Teilnahme daran eine wichtige Lehre gezogen: Die methodische Basis der russischen und einer gewissen Anzahl von türkischen Historikern, vor allem derjenigen, die ihr Master- oder Promotionsstudium in Russland absolviert haben, ist eng verwandt, wir sprechen dieselbe wissenschaftliche Sprache, wir benutzen denselben wissenschaftlichen Apparat, wir verstehen, was aus Zeitmangel nicht gesagt wurde, und das bietet schon jetzt eine reale Möglichkeit, eine voll funktionsfähige Arbeitsgruppe für das Studium der Ereignisse von 1915 in den russischen Archiven zu schaffen, die, wie ich glaube, bis zu einem Viertel der relevanten Dokumente im Bereich der Geschichte enthalten.
Der Begriff „Völkermord“ ist ein rein juristischer Begriff, der einen Straftatbestand beschreibt. Warum gehen Armenien oder die armenische Diaspora nicht vor einen internationalen Strafgerichtshof, um die Türkei zu verklagen?
Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie nur möglich: Das Osmanische Reich ist mit seinen armenischen Staatsangehörigen nicht grundsätzlich anderes verfahren als alle anderen Reiche, die im Ersten Weltkrieg gegen ihre ethnischen oder religiösen Minderheiten vorgingen, wenn diese eine klare oder auch nur potentielle Bedrohung für die Sicherheit des Staates und den Rückhalt der handelnden Armee darstellten. Zunächst wurden in Österreich-Ungarn bis zu einer Million russischsprachige orthodoxe Ruthenen aus den Unterkarpaten in den inneren Regionen des Reiches interniert, von denen mehr als zweihunderttausend entweder getötet wurden oder im Zuge der Deportation starben. Ebenso brutal ging das Deutsche Reich mit seinen elsässischen Untertanen um, da es befürchtete, dass diese auf die Seite der französischen Armee überlaufen würden.
Das Russische Reich deportierte mehr als eine Million seiner deutschstämmigen Untertanen aus den Provinzen der Westlichen Region in die Transwolga- und Trans-Ural-Regionen, da es befürchtete, dass sie auf die Seite des kaiserlichen Deutschlands überlaufen würden. Daher unterschieden sich die Deportationen der Armenier im Osmanischen Reich aus dem Kaukasus und der Umgebung Istanbuls in den Libanon und nach Syrien nicht von den Praktiken anderer kriegführender Länder.
Das Russische Reich setzte im Ersten Weltkrieg gerne die Untertanen gegnerischer Länder in den Reihen seiner Truppen ein. Das polnische Korps von General Dovbor Musnitsky wurde aus Polen in Deutschland und Österreich-Ungarn gebildet, das tschechoslowakische Korps von Radola Gajda wurde aus Kriegsgefangenen der Tschechen und Slowaken in österreichischer Landwehr gebildet, die eine wichtige Rolle in der Geschichte des russischen Bürgerkriegs spielten, das serbische Regiment aus ehemaligen Soldaten Österreich-Ungarns und einige einzelne Bataillone im Kaukasus aus armenischen Soldaten der osmanischen Armee, meist Überläufer. Aber Russland stand damit nicht allein. So stachelten die Briten die osmanischen Untertanen aus den Reihen der Aysoren oder Assyrer, unter denen sie seit den 1830er Jahren missionarisch tätig waren, zum Aufstand gegen die Osmanen an. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass das Osmanische Reich bereits 1908 an der Partisanenkriegsfront versuchte, die einheimische türkische Bevölkerung des iranischen Aserbaidschans gegen die Russen und Briten auszuspielen, und deshalb gibt es in der Weltwissenschaft der Militärgeschichte einen speziellen Begriff „Persische Front des Ersten Weltkriegs“. Der aktivste Einsatz der einheimischen Bevölkerung fand jedoch in Südafrika statt, wo lokale afrikanische Stämme gegeneinander kämpften, entweder mit den deutschen Kolonialtruppen aus Namibia oder den britischen Kolonialtruppen aus dem südafrikanischen Dominion im Rücken. Die Militärbehörden gingen mit solchen Aufständischen nach Kriegsrecht um; Überläufer und Verräter wurden nicht ein zweites Mal gefangen genommen, sondern auf der Stelle erschossen, und das war in allen Armeen aller kriegführenden Länder der Welt zu jener Zeit der Fall.
Wenn wir also die rein historische und sogar ideologische Frage des sogenannten „Völkermord an den Armeniern“ vor Gericht betrachten, muss diese Frage gemäß dem juristischen Prinzip der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz und dem Gericht im Sinne eines formal-juristischen Vergleichs der Handlungen der osmanischen Behörden mit den Handlungen der russischen Seite gegen die baltischen Deutschen, der deutschen Behörden gegen die elsässischen Franzosen, der österreichisch-ungarischen Behörden gegen die Ruthenen usw. betrachtet werden. Und wenn dies geschieht, wird jedem klar werden, dass die Osmanen keine besondere Grausamkeit gegen die Armenier walten ließen, und wenn doch, dann nicht mehr als die, welche die Behörden anderer kriegführender Mächte gegen ihre Untertanen walten ließen, deren Loyalität nur aufgrund der Nationalität oder Religion angezweifelt wurde. Damals war eine sehr spezifische Zeit, mit sehr spezifischen Sitten, die universell waren, so dass es unmöglich wäre, aus der allgemeinen Herrschaft der Schurken einen einzigen, den schurkischsten, herauszuheben. Deshalb war der Weg der Anerkennung des „Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich“ durch die Gerichte ein Misserfolg, denn er widersprach von Anfang an dem von Napoleon Bonaparte eingeführten Organisationsprinzip der europäischen Justiz. Ich war also nicht einmal überrascht, als ich erfuhr, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil gefällt hatte, demzufolge kontroverse Ereignisse aus der Geschichte der Menschheit nicht Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung und Lösung sein können.
Außerdem: Wer ist für die Kriegsverbrechen während des Ersten Weltkriegs verantwortlich zu machen? Die Völker und Territorien als solche sind im modernen Recht nicht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet, keiner der oben genannten Staaten (mit Ausnahme Großbritanniens) erkennt seine Rechtsnachfolge von seinen Vorgängern an, die zuvor auf ihren Gebieten existierten.
Die Russische Föderation sieht sich rechtlich nicht mit dem Russischen Reich verbunden, die Fünfte Republik in Frankreich verzichtete auf das Erbe des Vichy-Regimes von Marschall Pétain, und dieses wiederum auf das Erbe der Dritten Republik. Westdeutschland verbindet sich nicht mit dem Deutschen Kaiserreich, das heutige Österreich nicht mit Österreich-Ungarn. Die kemalistische Türkei hat noch vor Gründung der türkischen Republik als revolutionäre Regierung sowohl das Sultanat als auch das Kalifat im Lande abgeschafft und die moderne türkische Republik von Grund auf neu geschaffen, auf einer grundlegend neuen rechtlichen Basis, die in keiner Weise mit dem Osmanischen Reich verbunden ist. Wen kann man also verklagen, wer ist ein formaler Rechtsbeklagter im Sinne der formalen Abläufe eines modernen Gerichtsverfahrens?
Die moderne Archäologie hat mit Sicherheit bewiesen, dass der erste Genozid in der Geschichte der Menschheit stattfand, als Homo Sapiens in einem hunderttausendjährigen Krieg alle Neandertaler und alle Nachkommen aus Mischehen ausrottete. Anstatt sich also zu bemühen, den rechtlichen Status des „Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich“ zu ermitteln, wäre es besser, an der Feststellung der Tatsache des Völkermords am Neandertaler durch den modernen Menschen zu arbeiten. Dann bliebe nur noch, die Armenier als direkte Nachfahren der Neandertaler anzuerkennen und diesen Faktor als Haupttriebfeder des Völkermordes zu benennen, der sie während ihrer hunderttausendjährigen Existenz verfolgte. Natürlich ist dieses Bild surrealistisch, grotesk, aber vom historischen Standpunkt aus ist es viel angemessener als all der Unsinn, den die intellektuelle Komponente der armenischen Diaspora in verschiedenen Ländern der Welt über den „Völkermord an den Armeniern in der osmanischen Türkei“ predigt.
Vielen Dank für das Gespräch.