Members of the Israeli Defense Forces rest at positions near the Israel-Lebanon border in Israel / Photo: Reuters (Reuters)
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Von Murat Sofoğlu

Während sich das israelische Militär darauf vorbereitet, seine Bodeninvasion im Gazastreifen auszuweiten, warnen Experten vor einem größeren Konflikt in der Region – unabhängig davon, ob Israel die Hamas in der palästinensischen Enklave besiegen kann.

Israel hat seine Panzer um den Gazastreifen herum positioniert, um die Hamas und andere Widerstandsgruppen davon abzuhalten, Kämpfer sowie Waffen und Munition in das Gebiet zu transportieren.

Die Bodeninvasion folgt auf seit Tagen andauernden Angriffen Israels auf Gaza, bei denen mehr als 8000 Menschen getötet wurden – die meisten davon Zivilisten.

Eine regionale Ausweitung des Krieges könne jeden taktischen und militärischen Sieg Israels über die Hamas untergraben, sagt Omri Brinner, Forscher und Dozent der italienischen Denkfabrik ITSS Verona.

„Wenn man die Dinge objektiv und ganzheitlich betrachtet, erkennt man, dass jeder Weg, den Israel einschlagen würde, zu einer regionalen Eskalation führen würde. Und das selbst dann, wenn die Bodeninvasion erfolgreich darin wäre, die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen auszurotten und ihre militärischen Fähigkeiten außer Gefecht zu setzen – was unwahrscheinlich ist“, so Brinner im Gespräch mit TRT World. Das könne auch ohne eine regionale oder globale Reaktion gegen Israel passieren.

Auch wenn Israel und Hamas in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere Kriege geführt hätten, habe Israel bis zur gegenwärtigen Lage der Versuchung widerstanden, die Palästinensergruppe vollständig aus Gaza zu vertreiben, sagt Brinner.

Die Hamas, die über einen zivilen und militärischen Flügel verfügt, regiert in Gaza seit 2007 eigenständig, nachdem sie im Jahr zuvor die Wahlen gewonnen hatte. Seitdem verfolgt Israel eine Politik der Isolation. Mehr als zwei Millionen Palästinenser sind vom Rest der Welt abgeschnitten. Lebensmittel, Medikamente, Strom, Treibstoff und andere grundlegende Bedarfe der Menschen dürfen nur mit Israels Erlaubnis in den Gazastreifen gelangen.

Das empfindliche Gleichgewicht, das die aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen mit Gaza aufrechterhalten haben, sollte sich am 7. Oktober ändern. Hamas-Kämpfer starteten eine große Operation gegen illegale Siedlungen Israels an der Grenze zum Gazastreifen. Dabei sollen nach israelischen Angaben rund 1200 Menschen ihr Leben verloren haben. Mehr als 200 Menschen seien als Geiseln in der Obhut der Hamas.

Während Israel sich nun auf eine große Bodenoffensive vorbereitet, warnen Menschenrechtsgruppen vor einer Ausweitung der humanitären Katastrophe in Gaza. Hier drei mögliche Kriegsszenarien, die sich abspielen könnten.

Szenario 1: Eine umfassende Invasion

Israel nahm den 7. Oktober zum Vorwand, um massive Angriffe auf Gaza zu starten – ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zitierte sogar Passagen aus dem Alten Testament (Erstes Buch Samuel, Kapitel 15, Vers 2): „Ich habe beobachtet, was Amalek Israel angetan hat.“ „Wir erinnern uns und wir kämpfen“, fuhr er fort. Es geht hier um den angeblichen Befehl Gottes, das Volk Amalek vollständig auszurotten. Die Amalekiter sollen früher im südlichen Grenzgebiet des heutigen Israels gelebt haben. Diese Aussagen suggerierten ein geplantes Massaker gegen Frauen, Kinder, Alte und Tiere.

Aber ein israelischer Einmarsch in Gaza werde nicht einfach sein, sagt Abdullah Ağar, ein türkischer Militär-Analyst. Denn die palästinensischen Widerstandskämpfer hätten tiefe und lange unterirdische Tunnel errichtet.

Die Hamas und andere Gruppen verfügen schätzungsweise über eine Truppenstärke von rund 40.000 Kämpfern. Davon sollen rund 85 Prozent als Waisen aufgewachsen sein, weil ihre Eltern durch Israel getötet wurden.

Diese palästinensischen Kämpfer seien deshalb motiviert, die mächtige Armee Israels in die Knie zu zwingen, betont Ağar. In der asymmetrischen Kriegsführung, die sich inmitten der Trümmer einer städtischen Enklave entfalten wird, müsste Israel drei Soldaten gegen jeden palästinensischen Kämpfer stellen, fügte er hinzu. Das bedeutet, dass Israel eine ausgebildete Truppe von mindestens 120.000 Mann braucht, um den palästinensischen Widerstand zu brechen, sagt Ağar zu TRT World. „Das ist nicht meine Meinung, das steht in den regulären Militärhandbüchern zur asymmetrischen Kriegsführung.“

Die israelische Armee hat nach Schätzungen fast 170.000 einsatzbereite Soldaten. Tel Aviv rief außerdem 300.000 Reservisten ein. Es ist die größte derartige Mobilisierung in der Geschichte des Landes.

Doch die Reservisten, darunter junge Israelis aus den USA, werden es schwer haben, sich mit den hartgesottenen Hamas-Kämpfern auseinanderzusetzen, wie Experten immer wieder betonen.

Israel kann darüber hinaus unmöglich all seine regulären Streitkräfte im Gazastreifen stationieren, da es sich auch um das Pulverfass im besetzten Westjordanlandes und die Grenze zum Libanon sorgen muss. Dort wartet bereits die erzürnte Hisbollah..

Israel beabsichtige offenbar, Truppen zu entsenden, die durch einen schweren Artillerieangriff und eine große Bodenaufklärung unterstützt würden, vermutet Brinner. Dies werde auf die massiven Luftangriffe auf Gaza folgen.

„Mit dieser Operation soll die Hamas physisch daran gehindert werden, das Gebiet zu kontrollieren“, so Brinner. Zudem wolle Israel die militärischen Fähigkeiten der Hamas zerstören, die das Land als Bedrohung empfinde: „das Tunnelsystem, die Raketenwerfer usw.“

Israel will mit seiner Bodeninvasion auch die Freilassung von Geiseln erreichen. Doch mindestens 50 davon sollen bereits durch die Angriffe Israels auf Gaza getötet worden sein, wie die Hamas berichtet.

Dieses „Best-Case-Szenario“ einer Bodeninvasion basiere aber auf der Annahme, dass Tel Aviv nicht gleichzeitig mit „einer anderen Front“ konfrontiert wird, sagt Brinner. Er erinnert zugleich an die Präsenz der vom Iran unterstützten Hisbollah im Norden Israels. „Mit ihrem Arsenal von 150.000 Waffen und einer Armee von etwa 100.000 Kämpfern, von denen die meisten gut ausgebildet sind und über einige Kampferfahrung verfügen, stellt die Hisbollah eine strategische Bedrohung dar – eine größere als die Hamas.“

Während die Zahl der durch Israel getöteten Zivilisten in Gaza steigt, wächst die Angst vor einer Eskalation im besetzten Westjordanland, wo Israel bereits einzelne Vorstöße unternahm. Zivile Opfer unter den Palästinensern dort gibt es aber auch durch Übergriffe bewaffneter Siedler.

„Zum Zeitpunkt des Hamas-Angriffs am 7. Oktober waren bis zu 70 Prozent der israelischen Streitkräfte im Westjordanland stationiert“, sagt Brinner. Das unterstreiche die „symbolische und strategische Bedeutung“ der Region für Israel.

Israel müsse sich zudem mit den internationalen Reaktionen auseinandersetzen, besonders vor dem Hintergrund des Normalisierungsprozesses mit den arabischen Ländern. „Während es in Gaza, einem 363 Quadratkilometer großen Landstreifen, zu Eskalationen zwischen Israelis und Palästinensern kommt, haben diese Ereignisse einen Multiplikatoreffekt, der die ganze Welt erschüttert“, sagt Ağar.

Szenario 2: Eine begrenzte Bodenoffensive

Aufgrund der hohen Risiken einer umfassenden Bodeninvasion wird Israel nach Einschätzung von Brinner wahrscheinlich „eine begrenzte Bodeninvasion starten“. Es werde darum gehen, „einige taktische Siege“ gegen die Hamas zu erringen. Danach werde man darauf abzielen, „zu besseren Bedingungen einen Waffenstillstand“ zu erreichen, der zur Freilassung einiger israelischer Geiseln führen würde.

„Ich glaube nicht, dass Israel die Hamas im Rahmen ihrer militärischen Kapazitäten vollständig besiegen kann“, sagt Brinner. Aber Israels ultrarechter Ministerpräsident Netanjahu würde ein solches Ergebnis nur schwer akzeptieren, da er die extremistischen Wähler auf seiner Seite behalten möchte.

„Die israelische Öffentlichkeit wünscht sich, dass die IDF die Hamas ausrottet und die Geiseln nach Hause bringt“, sagt Brinner. Doch er geht dennoch davon aus, dass Netanjahu eine „gezieltere und chirurgische Operation“ befehlen werde. Dafür spreche die militärische Realität in Gaza als auch der Druck der USA auf Israel,

einen regionalen Krieg im Nahen Osten zu vermeiden. Dieses Szenario könne auch der Hisbollah zugute kommen, die möglicherweise versuche, „einen umfassenden Krieg mit Israel zu vermeiden“.

Szenario 3: Ein langwieriger Krieg

Auch Brinner sieht die Möglichkeit eines längeren Konflikts. Angesichts des öffentlichen Drucks in Israel aufgrund der Korruptionsvorwürfe und der Kritik zum 7. Oktober könnte Netanjahu das Gefühl haben, am Scheideweg zwischen Macht und Gefängnis zu stehen.

Der Hardliner Netanjahu bestehe darauf, auf Fragen zu den Ereignissen vom 7. Oktober erst „nach dem Krieg“ zu antworten, sagt Brinner. „Er würde alles in seiner Macht stehende tun, um Ministerpräsident zu bleiben.“ Daher könne man einen längeren Angriffskrieg nicht ausschließen.

Auch die Hamas und ihre Verbündeten im Nahen Osten könnten in einen langen Krieg investieren, so der israelische Politikanalyst. Die Hamas rechne damit, dass „selbst wenn Israel den Großteil ihrer strategischen militärischen Fähigkeiten zerstört“, man immer noch überleben könne.

Hamas wisse, „dass es durch die Verzögerung des Krieges wahrscheinlicher ist, die israelische Öffentlichkeit zu erschöpfen und weitere Unterstützung von Regierungen und Hilfsorganisationen aus der ganzen Welt zu erhalten“, meint Brinner.

TRT Deutsch