Gastarbeiter aus der Türkei an einem Bahnhof in Deutschland (dpa)
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Ein Kommentar von Burak Altun

Man kann den Gastarbeitern der ersten Generation nicht genug danken - denn sie ebneten den Weg für den Wohlstand der zukünftigen Generationen. Sie kamen aus der Ferne in die Fremde und hatten neben der Arbeitserlaubnis nur das Nötigste - oder noch weniger dabei. Sie wohnten in brüchigen Unterkünften, sprachen kein Deutsch und mussten viele Hürden überwinden, um sich und ihrer Familien ein menschenwürdiges Leben zu schaffen. Sie hielten als Müllmänner die Straßen sauber, als Bergbauleute wühlten sie sich unter Tage durch die Kohle und als billige Arbeitskräfte wurden sie in Fabriken für unliebsame Aufgaben eingesetzt. Doch allen widrigen Umständen zum Trotz meisterten sie viele Herausforderungen und ermöglichten ihren Kindern eine bessere Zukunft. Einige müssen aber Jahrzehnte später einen weiteren Lebenskampf bestreiten – dieses Mal gegen die Folgen des tödlichen Asbeststaubes, der über Jahre schutzlos eingeatmet worden ist. Viele sterben einen qualvollen, aber auch schnellen Tod.

In Westdeutschland wurden damals mehr als 3500 Produkte aus Asbest hergestellt und vermarktet. Mehrere Tonnen des giftigen Stoffes mussten dafür verarbeitet werden. Asbest wurde verwendet, um unter anderem Dachziegel, Fassadenplatten, Rohre, Elektrogeräte, Autos und Schiffe herzustellen. Dadurch wurden quasi ganze Lebensräume einer Kontaminierungsgefahr durch Asbest ausgesetzt. Einige dieser Produkte finden noch heute Verwendung.

Die feinen Asbestfasern setzen sich in der Lunge ab und führen zumeist im hohen Alter zu Krankheiten wie Asbestose und einigen tückischen Arten von Krebs. Die Latenzzeit bis zur Erkrankung beträgt durchschnittlich 30 bis 60 Jahre. Besonders gefährlich sind Tätigkeiten mit erheblicher Asbestexposition, denen man in Deutschland noch bis zum Verbot des Faserstoffes im Jahr 1993 ausgesetzt war. Das trifft auf Arbeiter zu, die bei der Fertigung oder Bearbeitung von Asbestprodukten mitgewirkt haben

Auch wenn schon ab 1972 entsprechende Schutzmaßnahmen in der Bundesrepublik angeordnet wurden, nahmen viele Arbeiter die Asbestgefahr nicht ernst genug. Nicht zuletzt wegen der unzureichenden Aufklärung über mögliche Spätfolgen. In einigen Fällen kam der Arbeitgeber seinen Pflichten nicht nach. Besonders betroffen waren ausländische Arbeitskräfte. Wenn nicht genug Schutzkleidung vorhanden war, mussten fast immer zunächst die Gastarbeiter ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Ansonsten drohte die Kündigung. Denn Ersatz gab es genug.

Ähnliche Missstände deckte der Schriftsteller Günther Wallraff bereits in den 1980ern auf. Er schildert sie lebensnah und unverhüllt in seinem Buch „Ganz unten“. Dafür war er für zwei Jahre in die Rolle des Türken Levent Ali Sigirlioglu geschlüpft und nahm mit dieser Identität verschiedene Jobs an. Viele Vorgesetzte handelten damals mit dem Hintergedanken, dass die Gastarbeiter nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden - und man sich folglich nicht mehr für Krankheit und Tod der hintergangenen Arbeiter verantworten muss. So kamen Gastarbeiter vielerorts unter die Räder der Profitgier skrupelloser Ausbeuter. Viele derartige Fälle wurden längst vergessen, einige Erzählungen werden aber von Generation zu Generation weitergereicht und prägen das Bewusstsein der Gastarbeiternachfahren noch heute. Sie erinnern an die Väter und Mütter, die kaum Möglichkeiten hatten, ihre Rechte zu verteidigen – und an den mangelnden Willen des Staates, sich den Fällen anzunehmen.

Heute, knapp 26 Jahre nach dem Verbot von Asbest, befinden wir uns inmitten der Hochphase der Erkrankungen, die laut Experten in etwa zwischen den Jahren 2015 und 2030 auftritt. Nach 2030 werden die Asbesterkrankungen voraussichtlich abnehmen.

Obwohl seit langem verschiedene Asbesterkrankungen wie Asbestose (1936), Lungenkrebs (1943) und das seltene, aber extrem tödliche Mesotheliom (1976) als Berufskrankheiten anerkannt sind, erwartet die Geschädigten ein mühsamer Weg. Sie tragen gegenüber den Unfallkassen und Berufsgenossenschaften eine Beweispflicht. Das heißt, sie müssen belegen, dass ihre sozialversicherte Tätigkeit die Erkrankung verursacht hat. Vielen fehlt dafür Zeit und Energie. Denn nach der Diagnose bleibt nicht mehr viel Lebenszeit.

Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass zwischen 1995 und 2012 weniger als die Hälfte der 143.488 gemeldeten Verdachtsfälle anerkannt worden sind. Rund 26.000 Menschen starben im gleichen Zeitraum an den Folgen der Asbestbelastung. Zwischen ausgeübter Berufstätigkeit mit Asbestkontakt und der Erkrankung liegen viele Jahre. Daher fehlen oft betriebliche Unterlagen, worin hervorgeht, welchen Gefahren und Belastungen die Betroffenen ausgesetzt waren. Die Opfer haben keinen Zugriff auf notwendige Akten, und nicht selten wurden entsprechende Dokumente durch den Arbeitgeber längst vernichtet. Der Arbeitnehmer trägt dann unweigerlich die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt. Beratungs- oder Hilfestellen, die den Betroffenen zur Seite stehen könnten, sind kaum verfügbar.

Vor diesem düsteren Hintergrund erwarten die Asbestopfer dringend neue Maßnahmen und Gesetze, um ihre Ansprüche auf Entschädigungen, ohne endlose Bürokratieprozesse, durchsetzen zu können.