Forsa war das erste Meinungsforschungsinstitut, das am Dienstag die Bombe platzen ließ: Erstmals seit 1.11.2006 landete die SPD in einer bundesweiten Sonntagsfrage des Instituts vor der Union. Im Vergleich zu damals haben beide einige Prozentpunkte eingebüßt – und selbst die Pole-Position kann für die Sozialdemokraten kein Grund zum Jubeln sein, weil sie mit einem prognostizierten Ergebnis von nicht einmal einem Viertel der abgegebenen Stimmen einherginge. Auch die Wahlenthaltung ist dabei noch nicht mit eingerechnet.
SPD profitiert von Schwäche der Konkurrenz
Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass die SPD mit einer so günstigen Ausgangsposition in die letzten Wochen des Wahlkampfs geht. Einer ist in der Person ihres Spitzenkandidaten Olaf Scholz zu suchen. Der Hanseat, der vor seinem Wechsel in die Bundespolitik fast sieben Jahre lang Hamburg regierte, wird als solider Politiker mit Macherqualitäten eingeschätzt. Demgegenüber war der Wahlkampf seiner Mitbewerber um die Kanzlerschaft – Armin Laschet und Annalena Baerbock – bislang von Patzern und zum Teil auch Querschüssen aus den eigenen Reihen gekennzeichnet.
Ein weiterer ist die Schwäche der übrigen Parteien, an welche die SPD in den Jahren zuvor Stimmen verloren hatte: Die Grünen haben ihren lange Zeit mit großem Abstand gehaltenen zweiten Platz eingebüßt und liegen mittlerweile wieder deutlich unter 20 Prozent. Die AfD kann nicht einmal von der Flüchtlingsdebatte im Kontext der Afghanistan-Krise profitieren und kommt nicht über zehn Prozent hinaus. Auch die Linke steht mit sechs Prozent am unteren Ende ihrer Erwartungen. Die FDP, die in der Zeit des Corona-Lockdowns zwischenzeitlich auf 13 bis 14 Prozent gekommen war, scheint ebenfalls einen Zenit überschritten zu haben.
Koalition unter Einschluss der Linkspartei unwahrscheinlich
Gelingt der Union keine Trendwende, wäre Olaf Scholz wahrscheinlich in der komfortablen Position, aus mindestens zwei realistischen Koalitionsoptionen auszuwählen: Er könnte die Sachsen-Anhalt-Option anstreben und ein Bündnis mit Union und FDP suchen. Er könnte aber auch eine Lösung suchen, die für die Union auf der Oppositionsbank endet – in Form einer Ampel-Konstellation mit Grünen und FDP.
Rechnerisch könnte es auch für eine Linkskoalition reichen. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass der Zentrist Scholz für ein solches Experiment zur Verfügung steht. Sowohl inhaltliche als auch taktische Gründe würden den Vizekanzler davor zurückscheuen lassen. Es wäre zudem damit zu rechnen, dass ein solches Bündnis bestenfalls eine hauchdünne Mehrheit im Bundestag hinter sich hätte. Abweichler in den eigenen Reihen könnten Scholz zudem noch am Ende ein ähnliches Schicksal bereiten wie den SPD-Politikerinnen Heide Simonis und Andrea Ypsilanti in den 2000ern, als diese ungeliebte Linkskoalitionen auf Länderebene anstrebten.
Esken und Kühnert auf Tauchstation
Scholz weiß, dass er vor allem von der Schwäche seiner Gegner profitiert – und dass seine Partei noch vor einem halben Jahr bei Umfrageergebnissen von 13 Prozent angelangt war. Dies bestärkt ihn in einem Wahlkampfstil, den die „Tagesschau“ als „seriöse Langeweile“ tituliert. Nach außen keine Blöße, nach innen Geschlossenheit, verordnete Tauchstation für linke Scharfmacher.
Eineinhalb Jahre, nachdem die SPD per Mitgliederentscheid Scholz und seine Ko-Kandidatin Klara Geywitz im Rennen um den Parteisprecherposten durchfallen ließ, sind es die damals erfolgreichen Linksaußenkandidaten Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, von denen zurzeit wenig zu hören ist. Sie wissen jedoch, dass dies eine der Voraussetzungen dafür darstellt, die Chance einer künftigen SPD-geführten Bundesregierung aufrechtzuerhalten.
Es bleibt der Wundertüten-Faktor
Dennoch könnte genau dies für Scholz perspektivisch zu einem Problem werden. Im Moment fliegen ihm als erfahrenem Regierungspolitiker der Mitte die Wählersympathien zu. Die Partei selbst, der Wähler, die einen Kanzler Scholz sehen wollen, ihre Zweitstimme geben müssen, bleibt eine Wundertüte.
Dies versucht nun auch die Union auf den letzten Wahlkampfmetern zu thematisieren. Werden es Realpolitiker wie Peter Tschentscher oder Malu Dreyer sein, die am Koalitions-Verhandlungstisch sitzen? Oder wird die SPD nach einem Erfolg dem eigenen Spitzenkandidaten das Heft aus der Hand nehmen und versuchen, die politische Agenda von Kevin Kühnert oder Saskia Esken mit Enteignungsfantasien und anderen Signalen an die äußerste Linke durchzusetzen?
Keine grundlegende Änderung der Migrationspolitik zu erwarten
Es ist damit zu rechnen, dass eine SPD-geführte Regierung, insbesondere im Fall eines Ampel-Bündnisses, einige symbolische Zeichen in Richtung des linken Randes setzen wird. Dazu dürfte die Abschaffung des § 219 StGB wohl ebenso gehören wie die „Absicherung queerer Familienmodelle“ oder engmaschige Quotenvorgaben zur Geschlechterparität auch in der Privatwirtschaft.
In der Wirtschafts- und Steuerpolitik werden jedoch Parteilinke und Grüne für sie schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen, da nicht damit zu rechnen ist, dass die FDP für Vermögenssteuern, weitere Belastungen für Bürger und Unternehmen oder für einen „Mietendeckel“ auf Bundesebene zu haben sein wird.
Bei Themen wie Migration und Integration ist immerhin von Olaf Scholz keine Kehrtwende zu erwarten. Einem harten Kurs gegen Flüchtlinge und sogenannte Integrationsverweigerer, wie ihn die Sozialdemokraten in Dänemark praktizieren, hat Scholz bereits mehrfach eine Absage erteilt.
Bezüglich der Moria-Flüchtlinge hatte er eine großzügigere Aufnahmebereitschaft gefordert. Zudem tritt er für eine engere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zur Bewältigung von Fluchtbewegungen ein. Scholz plädiert zudem für eine gezielte Fachkräfteeinwanderung, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen.