von Reinhard Werner
Berechnungen des Wirtschaftsberatungskonzerns PwC Deutschland zufolge, die auf Daten des Statistischen Bundesamtes und des ifo-Instituts beruhen, könnten die Folgen der Corona-Krieges und des Krieges in der Ukraine dem durchschnittlichen deutschen Haushalt Mehrkosten von bis zu 242 Euro pro Monat einhandeln. Allein 89 Euro davon würden Gas, Strom oder Heizöl zusätzlich verschlingen, 65 Euro mehr würden Lebensmittel kosten.
Im schlimmsten Fall, so die PwC-Experten, könnten Fleisch und Fleischwaren in diesem Jahr um bis zu 50 Prozent teurer werden – weil unter anderem die Preise für Futtermittel, Dünger, aber auch die Kühl- und Transportkosten in die Höhe schnellen.
Preise an den Kassen sind nicht nach Einkommen gestaffelt
Das Durchschnittseinkommen aller Arbeitnehmer in Deutschland betrug Ende des Vorjahres monatlich 2.084 Euro netto – 242 Euro wären 11,6 Prozent davon, die an Mehrausgaben ausschließlich für Grundbedürfnisse im Monat zu Buche schlügen. Nun gibt es allerdings Branchen und Regionen, in denen die real erzielten Einkommen sogar noch deutlich unter diesen Durchschnittswerten liegen.
Für einen Haushalt, dem nach allen Abzügen 2000 Euro zum Leben verbleiben, mögen auch 242 Euro mehr noch einigermaßen zu verkraften sein. Es gibt allerdings eine ganze Reihe an Familien, denen nur die Hälfte davon oder weniger verbleibt – und die Preissteigerungen im Supermarkt oder an der Tankstelle sind nun mal nicht sozial gestaffelt.
In der EU-Kommission, die in der breiten Bevölkerung nicht immer als Sinnbild für realitätsnahes und pragmatisches Handeln wahrgenommen wird, hat man diesmal recht zeitnah Handlungsbedarf gesehen. Die Agrarminister haben beim Treffen in Luxemburg zwar das Ziel einer umweltfreundlichen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) als solches nicht infrage gestellt. Allerdings haben sie vor dem Hintergrund der horrenden Preisexplosionen und der drohenden Versorgungsengpässe die Produktionsorientierung als weitere Leitlinie hinzugefügt.
Die ökologischen Zielvorstellungen sollen demnach im Auge behalten werden – allerdings unter der Voraussetzung, dass die Versorgungssicherheit für knapp 448 Millionen Bürger zu Preisen gewährleistet bleibt, die diese auch bezahlen können.
Özdemir gibt Flächen nur zur Futternutzung frei
Die erste Konsequenz aus diesem Entschluss war es, dass im März eine Ausnahmeregelung bezüglich der insgesamt vier Millionen Hektar geschaffen wurde, die bis dahin als sogenannte ökologische Vorrangflächen (ÖVF) ausgewiesen waren. Diese, so EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski, sollen bis auf Weiteres für die Lebensmittelproduktion genutzt werden können – zumindest bis die Kriegsfolgen im Bereich der Versorgung auf andere Weise bewältigt werden können.
Als einziger der 27 Mitgliedstaaten hat sich Deutschland mit Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nicht nur im Rat gegen diese Vorgehensweise ausgesprochen, was den delegierten Rechtsakt der EU-Kommission als solchen nicht verhindern konnte. In Berlin wollte man in weiterer Folge aber auch von der mehrheitlich beschlossenen Regelung nicht Gebrauch machen und ließ die Gelegenheit verstreichen, bis zum 13. April zu benennen, ob und bezogen auf welche Flächen man die Option nutzen wolle.
Özdemir hielt es eigenen Angaben zufolge für ausreichend, die hiesigen ÖVF zur Futternutzung freizugeben.
Österreich: „Jeder Hektar hilft“
Auf diese Weise beschreitet Deutschland einen Sonderweg, der auf Kosten der eigenen Bevölkerung gehen könnte. Andere Mitgliedstaaten machen nicht nur von der nunmehrigen Sonderregelung bereitwillig Gebrauch, es mehren sich mittlerweile sogar die Stimmen für eine grundsätzliche Aussetzung der Verpflichtung zur Stilllegung von vier Prozent der Ackerflächen innerhalb der Gemeinschaft.
Frankreich hat im Interesse der Ernährungssouveränität bereits Ende März per Dekret seine 300.000 Hektar an ÖVF für den Getreideanbau freigegeben, inklusive der Befugnis, Pflanzenschutzmittel einzusetzen – und führt die betroffenen Äcker trotzdem noch als Brachflächen.
Spanische Bauern dürfen 600.000 Hektar mehr bestellen, auch Polen und Italien schaffen zusätzliche Gelegenheiten zur Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln. Österreich erlaubt ebenfalls die volle Nutzung. Angesichts der ausbleibenden Getreidelieferungen aus der Ukraine äußert Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger: „Jeder Hektar, den wir in Europa in Bewirtschaftung bringen, auch der österreichische Beitrag, hilft.“
Deutschland bleibt beim ideologischen Standpunkt
Staaten wie Kroatien gehen noch weiter und fordern eine umfassende Freigabe von Mitteln aus dem zweiten Topf der GAP, um die Kostensteigerungen bei Diesel, Mineraldünger und anderen Betriebsmitteln auffangen zu können. Dazu sollen Restmittel aus dem Fördertopf für ländliche Entwicklung umgewidmet werden.
Frankreichs Landwirtschaftsminister Julien Denormandie will verbindliche Produktionsziele für die europäische Landwirtschaft einführen und den Katalog der politischen Zielsetzungen der GAP um jene der Ernährungssouveränität und Unabhängigkeit zu ergänzen. Der im Green Deal verankerte Wandel der Landwirtschaft zu Umwelt- und Klimazielen müsse verbindlich um den Schutz und die Sicherung der gemeinschaftlichen Lebens- und Futtermittelproduktion ergänzt werden.
In Deutschland will man von all dem weiterhin nichts wissen. Hier will man ohne Rücksicht auf Verluste an den für 2023 vereinbarten Stilllegungszielen festhalten, die ein Aus für die Bestellung 42.000 Hektar von einer gemeinschaftlichen Gesamtfläche von 1,05 Millionen bedeuten würden, was erst der Anfang einer vor allem ideologisch begründeten Stilllegungspolitik wäre. Haben einzelne europäische Länder Pech mit dem Wetter, käme ein unvorhergesehener Produktionsausfall noch dazu.
Für die deutschen Grünen offenbar ein kalkulierbares Risiko. Ihre Zielgruppe wäre problemlos in der Lage, auch noch weitere Preissteigerungen zu stemmen. Allen anderen würden die Heerscharen politisch mit ihnen sympathisierender Medienschaffenden erklären, warum es eine moralische Verpflichtung wäre, sich mit noch weiteren Entbehrungen und Einschnitten im Lebensstandard zu arrangieren. Und irgendwann käme zweifelsfrei auch das ultimative Totschlagargument: „Wenn wir keinen Planeten mehr haben, brauchen wir uns um Ackerflächen gar keine Gedanken mehr zu machen.“
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