Die ersten Gruppen von MigrantInnen sind in den 1960er Jahren an Bahnhöfen wie auch an Flughäfen auf roten Teppichen und mit Musikkapellen herzlich empfangen worden. Auf beiden Seiten war die Freude groß: denn die Gastarbeiter sollten dem deutschen Staat nach der Zwischenkriegszeit zum wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen.
Sie wurden als Gäste betrachtet, die früher oder später zurückkehren würden. Auch die Einwanderer rechneten mit einer Rückkehr. Doch mittlerweile sind die dritte und die vierte Generation von MigrantInnen mitbestimmend in der deutschen Politlandschaft.
Nichtsdestotrotz werden diese Menschen, verstärkt seit der Flüchtlingswelle im Jahr 2015, nicht als Deutsche, sondern als „ewige Fremde“, die die „deutschen Werte“ bedrohen, wahrgenommen.
Diese Wahrnehmung äußerte sich in Vergangenheit in der verfehlten Integrationspolitik, in der Benachteiligung bei der Bildung wie auch auf dem Arbeitsmarkt – und nicht zuletzt in der Hetze sowie bei den Angriffen gegen Muslime.
…und dann kamen die Morde
Bereits in den 1980er Jahren wurden Angriffe auf MigrantInnen in Deutschland verübt. Der Mordanschlag von Solingen (1993), die NSU-Morde (2000) - und die „Dönermorde“ (2005), wobei hier bereits die Betitelung eindeutig rassistische Vorurteile enthält. Bei diesen und vielen anderen Fällen waren hauptsächlich türkischstämmige Menschen die Opfer.
2019 wurde im Schnitt jeden zweiten Tag ein Angriff auf eine Moschee verübt. Alleine im Jahr 2018 wurden 578 islamfeindliche Straftaten dokumentiert. Die Anschläge machen auch im Jahr 2020 keinen Halt. Erst vor wenigen Tagen wurden zwölf mutmaßliche Extremisten einer rechtsterroristischen Vereinigung verhaftet, die Anschläge auf Moscheen in sechs Kleinstädten Deutschlands geplant haben sollen. Zuletzt wurden am 19. Februar neun Menschen in zwei verschiedenen Schischa-Bars in Hanau von einem Rechtsextremisten hingerichtet.
Die Frage, die sich vor allem Betroffene stellen, lautet: Warum schafft es der deutsche Staat nicht, diesen Angriffen im Vorfeld entgegenzuwirken? Profile von mutmaßlichen Daesh-Anhängern in sozialen Netzwerken werden sorgfältig überprüft. Wenn es jedoch um Individuen mit offensichtlich rechtsradikalen Ansichten geht, die im Internet offenkundig ihr Weltbild teilen, entsteht der Eindruck, dass sehr spät reagiert wird - so als würden diese Extremisten plötzlich aus dem Nichts auftauchen und aus ihrem geistig verwirrten Zustand heraus ein Blutbad anrichten.
Was folgt sind betroffene Behörden und Politiker, eine Welle von kreativen Hashtags in sozialen Medien, Verurteilungen, Videos, Interviews, Berichte mit Statistiken zu Rechtextremismus und nach einiger Zeit ist das ganze schon wieder vergessen – vergessen bis zum nächsten Blutbad.
Dieser ganze Prozess scheint ein nie endender Kreislauf zu sein: solange die Behörden keine produktiven und nachhaltigen Lösungen gegen Extremismus in all seinen Dimensionen liefern, wird der Rechtsterror nicht aufhören.
Wer gehört zu Deutschland?
Am Tag des terroristischen Aktes in Hanau teilte die Deutsche Welle ein Video auf Facebook, in dem junge Erwachsene zu dem Thema „Fremde in ihrem eigenen Land: Wer gehört zu Deutschland“ über ihre Meinung befragt wurden. Alle Befragten mit Migrationshintergrund verstanden sich als Deutsche und somit als Teil der deutschen Gesellschaft.
Doch warum werden zumeist außereuropäische Migranten noch immer nach ihrer „eigentlichen“ Herkunft befragt? Wann hört das Generationszählen auf? Mittlerweile lebt die vierte Generation von „Migrantenkindern“ in Deutschland. Sie sind in diesem Land geboren, aufgewachsen und sozialisiert.
Dennoch werden noch immer insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund aus Asien und Afrika als Bedrohung für „europäische Werte“ wahrgenommen. Was diese „europäischen Werte“ sind, kann noch immer niemand eindeutig definieren. Das gleiche gilt auch für die sogenannten „deutschen Werte“.
Der Philosoph Andreas Niederberger erklärte in einem Interview, dass es so etwas wie „deutsche Werte“ gar nicht gäbe. Vielmehr verwechsle man „Werte“ mit „Normen“ und „Tugenden“. Während Werte kein genaues Handeln vorgäben, bestimmten Normen welche Handlungen „richtig“ oder „falsch“ sind. Tugenden beschreiben laut Niederberger die Handlungsweise eines Menschen. Wörter wie „Demokratie“, „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ definiert der Philosoph als Norm und nicht als Wert.
Wenn also Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit akzeptierte Normen, unabhängig von Kultur und Religion sind, warum fällt es dann schwer, diese Normen als universell zu akzeptieren und sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Gesellschaft, nämlich „das Menschsein“, zu besinnen? Solange das Zusammenleben durch differenzierende Kategorien wie Hautfarbe, Kultur und Religion definiert und von der Politik vorangetrieben wird, wird das Schubladendenken nicht aufhören.
Worte schaffen Bewusstsein
Während die Namen der Attentäter großflächig zitiert werden, bleiben die Opfer hauptsächlich anonyme Worthülsen. Doch weshalb fällt es insbesondere den westlichen Medien so schwer, das Kind beim Namen zu nennen? In einem Artikel der Tageschau heißt es: „Die Bundesregierung reagierte bestürzt auf das Gewaltverbrechen.“ Wieso spricht man trotz bekannter Tatmotive nicht von einem „Terroristischen Akt“? Im Tagespiegel wird von den „Morden von Hanau“ gesprochen, obwohl gleichzeitig der rechtsradikale Hintergrund erwähnt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Fälle in Zukunft als „Schischa-Morde“ klassifiziert werden, so wie es bereits bei den „Dönermorden“ der Fall war, ist nicht auszuschließen. Fast nirgends wird der Täter als „Terrorist“ bezeichnet: Er wird vielmehr in den deutschen wie auch in den Englischen Medien als „Täter“, „Schütze“, „mutmaßlicher Täter“ und „Attentäter“ bezeichnet.
Wörter schaffen Bewusstsein. Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen Staates, mit der richtigen Wortwahl ein Verständnis zu schaffen, sodass derartige Taten eindeutig als „Terrorakt“ bezeichnet werden. Es bedarf an Maßnahmen, damit Migranten in den Medien wie auch in der Politik als vollwertige Teile der Gesellschaft wahrgenommen werden. Es gilt nun einen Schritt vorauszugehen, und Wörter wie „Terrorist“ in das Vokabular für „westliche Täter“ aufzunehmen und den Angehörigen der Opfer Respekt zu zollen. Statt über Integrationsmaßnahmen sollte man von Inklusion sprechen – denn MigrantInnen sind seit mehr als 60 Jahren ein Teil von Deutschland.