Während den 70er und 90er Jahren war die politische Landschaft von Türkiye von Instabilität geprägt. Dies bot dem Militär einen Vorwand, die Zivilregierung zu stürzen oder in sie einzugreifen. Die Koalitionsregierungen führten zu politischen Patt-Situationen und ließen eine schwerfällige Bürokratie im Staat entstehen.
Nach einem weiteren Putschversuch im Jahr 2016 änderte Türkiye ein Jahr später unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan das parlamentarische System in ein präsidiales Modell. Erdoğan bezeichnet das neue System als ein Präsidialsystem „nach türkischem Vorbild“. Das Modell könne auch andere Länder inspirieren.
Türkiye steht am 14. Mai vor einer wichtigen Wahl. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen finden am gleichen Tag statt. Viele Analysten sind der Meinung, dass die Ergebnisse auch einen Hinweis auf die Popularität und Stärke des türkischen Präsidialsystems geben könnten.
Das neue türkische System weist einige Ähnlichkeiten und Unterschiede mit der französischen Halbpräsidentschaft und dem US-amerikanischen Modell auf. Während Experten Frankreich als bestes Beispiel für ein semipräsidentielles System ansehen, gelten die USA als klassischer Vertreter eines vollständigen Präsidialsystems.
Hier ein einfacher Vergleich des türkischen Präsidialsystems mit seinem französischen und US-amerikanischen Pendant:
Präsidentschaftswahl
In Türkiye und in Frankreich findet die Präsidentschaftswahl in zwei Runden statt. In den USA hingegen wird der Präsident in einer einzigen Abstimmung gewählt. In Frankreich und den USA finden die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen zu unterschiedlichen Zeiten statt - in Türkiye jedoch am selben Tag.
Das Amt des Ministerpräsidenten
Wie in den USA gibt es auch im türkischen Präsidialsystem keinen Ministerpräsidenten. Während der türkische Präsident die Kabinettsmitglieder direkt ernennen kann, braucht der US-amerikanische Präsident die Zustimmung des Kongresses. Folglich hat der Präsident in Türkiye und in den USA die ausschließliche Befugnis, über die Leitung fast aller Regierungsbereiche zu entscheiden - von der Außenpolitik bis hin zu innenpolitischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten.
In Frankreich ernennt der Präsident den Ministerpräsidenten aus den Mitgliedern der Mehrheitspartei. Die vom Ministerpräsidenten geführte Regierung unterliegt der Zustimmung des Parlaments. Der Ministerpräsident kann durch ein Misstrauensvotum seitens des Parlaments abgesetzt werden. Verteidigungs- und Außenminister werden in der Regel vom Präsidenten ernannt, während die Innen- und Wirtschaftspolitik in die Zuständigkeit des Ministerpräsidenten fällt. Entsprechende Minister des Kabinetts werden zudem vom Ministerpräsidenten ernannt. Daher wird das französische System als semipräsidentielles Modell bezeichnet – im Gegensatz zu den USA, die ein volles Präsidialsystem sind.
Ein semipräsidentielles System weist Ähnlichkeiten mit dem parlamentarischen Modell auf. In Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern wird das parlamentarische Modell praktiziert. Allerdings verfügt das Staatsoberhaupt in semipräsidentiellen Modellen über außerordentliche Befugnisse, die es in parlamentarischen Systemen nicht hat, da es in der politischen Praxis vom Volk direkt gewählt wird.
In parlamentarischen Systemen sind die Präsidenten zwar offiziell Staatsoberhäupter, werden aber von den nationalen Parlamenten gewählt. Da es kein Mandat des Volkes gibt, hat der Präsident in parlamentarischen Systemen bei der Amtsausübung eine repräsentative Funktion.
Gewalt über Auflösung des Parlaments
Bezüglich der Auflösung von Parlamenten unterscheiden sich das türkische und US-amerikanische Präsidialsystem. Während der Präsident das türkische Parlament auflösen kann, ist dies in den USA nicht der Fall. Der US-Präsident darf beide legislative Kammern des Kongresses – Senat und Repräsentantenhaus – unter keinen Umständen auflösen.
In diesem Aspekt ähnelt das türkische System dem französischen System. Der Präsident kann die Nationalversammlung jederzeit auflösen, nachdem er den Ministerpräsidenten und die Vorsitzenden des Oberhauses (Senat) und des Unterhauses (Nationalversammlung) konsultiert hat.
Amtsenthebung des Präsidenten
Bezüglich der Amtsenthebung vom Präsidenten weist das türkische System mehr Ähnlichkeiten mit den USA als mit Frankreich auf. In den USA kann der Kongress den Präsidenten mit einfacher Mehrheit anklagen. Jedoch ist eine Zweidrittelmehrheit im Senat für eine Amtsenthebung erforderlich.
In Türkiye kann das Parlament eine Neuwahl des Präsidenten ansetzen. Dafür ist eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In Frankreich ist für die Absetzung des Präsidenten eine einfache Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments erforderlich.
Wenn sowohl das Ober- als auch das Unterhaus beschließen, einen französischen Präsidenten abzusetzen, kann dies gemäß Artikel 68 der Verfassung nur das Parlament „in seiner Funktion als Oberstes Gericht“ tun.
Durchführung von Volksabstimmungen
Das US-amerikanische Modell sieht keine Volksabstimmungen auf Bundesebene vor. Im Gegensatz dazu lassen sowohl das türkische als auch das französische Präsidialsystem Referenden auf nationaler Ebene zu wichtigen Themen wie Verfassungsänderungen zu. Auf lokaler Ebene lassen Frankreich und 23 US-amerikanische Bundesstaaten Volksabstimmungen zu verschiedenen Themen zu, während das türkische Präsidialsystem keine solche Regelung enthält.
In Frankreich kann der Präsident gemäß der Verfassung „ohne gegenseitige Unterschrift“ ein Referendum zu allen Themen einberufen. Der französische Präsident kann auch eine Volksabstimmung über einen Vorschlag des Kabinetts oder des Parlaments einberufen.
Außerdem kann ein Referendum in Frankreich von „einem Fünftel der Parlamentsmitglieder, unterstützt von einem Zehntel der auf den Wahllisten eingetragenen Wähler“ zu Themen im Zusammenhang mit Regierungsvorlagen, die das Funktionieren der staatlichen Institutionen betreffen, ausgerufen werden.
Andererseits können türkische Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen direkt vom Präsidenten durchgeführt werden. Wenn in Türkiye eine Verfassungsänderung nicht die erforderliche Mehrheit im Parlament erhält, muss sie ohne das Eingreifen des Präsidenten in einem Referendum abgestimmt werden.
Sowohl in der türkischen als auch in der französischen Politik haben Volksabstimmungen eine wichtige Rolle gespielt. So wurde Der Übergang vom parlamentarischen System zum präsidialen Modell in Türkiye im Jahr 2017 durch ein Referendum beschlossen. In ähnlicher Weise fand Frankreichs Übergang zum semipräsidentiellen System statt: Die entsprechende Verfassung von 1958 wurde durch ein Referendum verabschiedet. Auch der EU-Beitritt Frankreichs durch den Vertrag von Maastricht 1992 erfolgte nach einem Referendum.
Ernennung von Botschaftern
Der Präsident hat die direkte Befugnis, Botschafter in Türkiye und Frankreich zu ernennen. Anders ist die Situation in den USA: laut Verfassung ernennt der Präsident die Botschafter „durch und mit dem Rat und der Zustimmung des Senats“. Die Ernennung eines amerikanischen Botschafters unterliegt daher der Zustimmung des Senats.
Militärische Einflussnahme ausgeschlossen
Die Grundidee hinter den Änderungen bestand darin, den politischen Einfluss des Establishments in die gewählte Regierung einzuschränken. In den letzten sechs Jahrzehnten war Türkiye Zeuge von sieben größeren Militärinterventionen und mehreren gerichtlichen Maßnahmen gegen die Regierungen.
Die türkischen Militäreliten haben seit 1960 vier demokratisch gewählte Regierungen gestürzt. Zahlreiche politische Akteure, darunter auch demokratisch gewählte Ministerpräsidenten, wurden in diesem Zeitraum vor Gericht gestellt, inhaftiert und sogar hingerichtet.
Während der Regierungszeit der AK-Partei wurde der Einfluss des Militärs auf die Politik schrittweise verringert. Mit dem neuen System ist verfassungsmäßig garantiert, dass jede Möglichkeit einer militärischen Einflussnahme verhindert wird.
Zum ersten Mal in der modernen türkischen Geschichte unterliegt das Militär der Kontrolle durch den zivilen Staatsaufsichtsrat – ein Schritt, der das Militär mit anderen Exekutivorganen gleichstellt. Die Militärgerichte beschränken sich nun auf Disziplinarangelegenheiten von Offizieren. Die Zuständigkeit dieser Gerichte, die zuvor sehr weit gefasst war, wurde auf die Zivilgerichte übertragen.