Archivbild: Die Kurdin Maide T. demonstriert im Regierungsviertel in Berlin für die Rettung ihrer Tochter aus den Fängen der Terrororganisation PKK. (AA)
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von Nazlı Delikaya

In der Debatte um die Bundestagswahl 2021 schienen bislang bestimmte Themen im Vordergrund zu stehen: die Corona-Krise, Klimaschutz und die Frage nach der Nachfolge von Angela Merkel. Andere essenzielle Themen kamen dabei recht kurz, so etwa der Kampf gegen Rechtsextremismus. Auch weitere politische Baustellen rückten bei den TV-Triellen und anderen Medienformaten in den Hintergrund. Man schenkte ihnen entweder gar keine Beachtung oder tat so, als handele es sich um bereits geklärte Probleme. Dazu gehört auch die sogenannte Kurdenfrage.

Schwierige Schätzung genauer Anzahl

In Deutschland leben schätzungsweise eine Million Menschen mit kurdischen Wurzeln. Die statistische Erfassung dieser Bevölkerungsgruppe ist schwierig, da Ämter nicht die Ethnizität von Minderheiten registrieren, sondern die Staatsangehörigkeit. Kurden bilden Vermutungen zufolge die zweitgrößte Minderheit in Deutschland. Viele dieser Menschen sind wahlberechtigt und leben seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik. Damit prägen sie auch die politische Agenda der Parteien – und den Wahlkampf.

Natürlich sind sich die Parteien dessen bewusst und versuchen, mindestens einen kurdischen Kandidaten aufzustellen. Es gibt Kandidaten, die durch ihre Erfolgsgeschichte brillieren sollen, wie etwa der kurdische Student Ferhat Asi (FDP), der einst als Asylant viel durchmachen musste. Dann gibt es solche wie Sercan Çelik (SPD): Der Jurist soll vor allem als erster ezidischer Kurde durch seine Pionierrolle hervorstechen. Kurdischstämmige Bundestagsabgeordnete sind zwar eine Seltenheit, aber nichts Neues – und sie fallen auf. So sorgte die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen Ende 2017 mit einer provokativen Flaggen-Aktion im Bundestag für Furore.

Vertritt KON-MED alle Kurden?

Nicht nur im Bundestag wollen Menschen mit kurdischen Wurzeln in Erscheinung treten, auch zivilgesellschaftlich gibt es viele Organisationen, die sich den Anliegen der hiesigen Kurden widmen – oder das zumindest behaupten. So sieht sich der Dachverband KON-MED als Vertreter der Kurden in Deutschland, 250 Vereine sollen ihm gar unterstehen. Dabei wurde die Organisation nach eigenen Angaben erst im Mai 2019 gegründet.

Unter Berufung auf seine Reichweite verschickte KON-MED deshalb Wahlprüfsteine zu der Bundestagswahl an die Parteien. Während Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit bezüglich Bildung, Rente, Mietenniveau recht universell klingen, weisen die restlichen Fragen einen starken Türkeibezug auf.

Dabei verfährt KON-MED zweigleisig: Einerseits soll die Teilhabe der von KON-MED unterstützten Kurden und kurdischen Vereine an der Entscheidungsgewalt in Deutschland steigen. So gibt es den fast schon beleidigt klingenden Vorwurf, dass „bisher Einladungen zur Teilnahme“ an dem Integrationsgipfel der Bundesregierung nicht erfolgt seien.

Andererseits soll die kommende Bundesregierung bitteschön auch in Richtung Türkei alle Forderungen des Dachverbandes durchsetzen wollen: Die PKK soll aus der EU-Terrorliste gestrichen werden, ein PKK-Verbot in Deutschland soll gänzlich aufgehoben werden, Symbole der PYD, YPG, YPJ und weiterer Ableger sollen ohne Konsequenzen auf Demos und andernorts verwendet werden können – und natürlich soll ebenfalls der in der Türkei inhaftierte PKK-Anführer Abdullah Öcalan freigelassen werden. Gleiches gelte auch für die elf kurdischen „Aktivisten“, die sich derzeit in Deutschland in Untersuchungshaft befänden.

Das verfälschte Bild „des Kurden“

Dass KON-MED „die Kurden“ in Syrien und Irak zum Retter der Menschheit vor der Terrormiliz Daesh stilisiert und damit Deutschland in die Schuld nehmen will, ist ein kluger Schachzug. Der Vergleich des Terroranführers Öcalan mit dem friedfertigen Nelson Mandela wirkt dagegen lächerlich. Die Verwendung des Begriffs „Kurdenpartei“ als Synonym für die HDP ist gleichzeitig ein allgegenwärtiges Narrativ, das vielen Lesern bereits durch deutsche Leitmedien bekannt ist.

KON-MED spricht von einem „kurdischen Freiheitskampf“, wirft der Türkei eine „Kriminalisierungs- und Repressionspolitik gegenüber der kurdischen Community und kurdischen Politik“ vor. Die Möglichkeit, dass es auch Kurden geben kann, die sich von der PKK oder HDP nicht vertreten fühlen, wird im Wege eines totalitären Alleinvertretungsanspruchs unterschlagen. Das kreierte Bild des idealen Kurden ist klar definiert: links, PKK-nah, Türkei-feindlich, wenn möglich nicht religiös. Deshalb ist es wenig überraschend, dass eine kurdische Mutter in Berlin, die ihre junge Tochter verzweifelt aus den Fängen der Terrororganisation PKK retten will, bei KON-MED kein Gehör findet.

Der kurdischstämmige Journalist und Ingenieur Enes Seydanlıoğlu macht auf diesen gravierenden Unterschied unter den Deutschkurden aufmerksam: „Wenn wir von kurdischen Wählern in Deutschland sprechen, so meinen wir damit Wähler, die entweder die kurdische Identität auf direktem Wege haben oder entsprechend sozialisiert wurden. Diese Wählerschaft kann wiederum in zwei Gruppen unterteilt werden: diejenigen Wähler, die unter dem Einfluss der PKK oder PKK-naher Einrichtungen stehen, und diejenigen, die sich diesem politischen Einflussbereich der PKK entzogen haben bzw. dem nicht ausgesetzt wurden. Vereinigungen, die eine Verbindung oder Nähe zur PKK aufweisen, empfehlen ihren wahlberechtigten Mitgliedern die Linke-Partei. Gleichzeitig halten sie aber den engen Kontakt zu den anderen Parteien bewusst aufrecht.“

Kurdenfrage im Wahlprogramm der Parteien?

Tatsächlich ist es von allen Parteien die Linke, die in ihrem Wahlprogramm der Kurdenfrage am meisten Raum bietet und um die Stimmen der PKK-nahen Deutschkurden buhlt. Während große Parteien wie die SPD und die CDU die Beziehungen zur Türkei in ihren Wahlprogrammen kurz erwähnen, aber einen großen Bogen um das Thema Kurden machen, decken sich die Versprechen der Linken und der MLPD sehr stark mit den Forderungen von KON-MED. Die Grünen fordern dagegen die „sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und die Rückkehr zu einem politischen Dialog- und Friedensprozess in der kurdischen Frage“, ohne dabei konkrete Namen zu nennen.

„Anhand der geforderten Maßnahmen kann geschlussfolgert werden, dass die politische Ausrichtung sich nicht an Deutschland orientiert, sondern ein politisches Verständnis zugrunde hat, das sich auf die Türkei bezieht, sie sogar angreift“, betont Seydanlıoğlu in diesem Zusammenhang.

Zurück bleiben die anderen, d. h. Deutschkurden, die sich von der PKK distanzieren und ihre kurdische Identität als Minderheit wahren wollen. Nach welchen Kriterien werden sie wählen? „Diese Gruppe wird bei der Stimmabgabe drei Parameter vor Augen haben: die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, die Zukunft der deutschen Wirtschaft und die Freiheitsrechte im öffentlichen Raum. Ihre Stimmen müssten eher bei der CDU/CSU und der SPD landen“, sagt Seydanlıoğlu, der selbst in Deutschland studiert hat und lebt.

TRT Deutsch