Der von der türkischen Minderheit in der nordostgriechischen Stadt Gümülcine (Komotini) demokratisch gewählte Mufti İbrahim Şerif soll am 7. Oktober 2021 vor einem griechischen Gericht in Thessaloniki wegen „Amtsaneignung“ angeklagt werden. Die zuständige griechische Staatsanwaltschaft wirft dem Religionsgelehrten vor, 2017 an einer muslimischen Beschneidungszeremonie in Alankuyu, einem Stadtteil von Gümülcine, teilgenommen zu haben. Auch andere von der türkischen Minderheit gewählte Muftis werden von den griechischen Behörden nicht anerkannt und systematisch verfolgt.
Verstoß gegen die Verträge von Athen und Lausanne
Der Hintergrund dieser juristischen Auseinandersetzung besteht in der Haltung des griechischen Staates, in die religiöse Autonomie der türkischen Minderheit zu intervenieren und die im Athener Vertrag von 1913 und im Lausanner Vertrag von 1923 geregelte demokratische Wahl von islamischen Religionsgelehrten nicht anzuerkennen. Dies stellt einen klaren Rechtsbruch dar, weil sich Griechenland in den erwähnten Abkommen dem „Schutz der Minderheiten“ verpflichtet hat.
In Artikel 11 Absatz 6 des Athener Vertrags vom 17. Mai 1913 hatte sich das damalige Griechenland verpflichtet, „Leben, Eigentum, Ehre, Religion und Bräuche“ der Bevölkerung, die unter griechischer Hoheit blieb, zu respektieren. Muslime haben das Recht auf Freiheit und offene Religionsausübung. Demnach ist auch geregelt, dass jeder Mufti von der muslimischen Bevölkerung durch Wahlen bestimmt wird. Ferner verabschiedete das griechische Parlament 1920 ein Gesetz, das die Wahl der Muftis durch die türkische Minderheit regelte und zuvor vom griechischen Außenministerium und dem regionalen Gouverneur abgesegnet wurde. Auch Artikel 38 des Lausanner Vertrags verpflichtet den Signatarstaat dazu, allen Staatsbürgern unabhängig von ethnischer Herkunft, Sprache, Nationalität, Religion und Geburtsort unterschiedliche Lebensweisen und Freiheiten zu gewähren.
Wie im Vertrag von Lausanne vorgesehen, konnten bis 1985 die Mitglieder der türkischen Minderheit ihre eigenen Muftis wählen. Nach dem Ableben des damaligen Muftis von Gümülcine, Hüseyin Mustafa, änderte Athen seine Politik und ernannte selbst einen Religionsgelehrten für das vakante Amt. Dieser Schritt sorgte für Unmut bei den Westthrakientürken und führte zu Protesten.
Religiöse Autonomie der türkischen Minderheit faktisch abgeschafft
Das Abkommen gilt sowohl für Griechenland als auch für die Türkei. In Griechenland wurde durch einen Präsidentenerlass am 24. Dezember 1990 das Gesetz aus dem Jahre 1920 außer Kraft gesetzt und die Wahl der Muftis in Westthrakien dem örtlichen Gouverneur überlassen. Die religiöse Autonomie der türkischen Minderheit wird durch die staatliche Ernennung von Muftis faktisch abgeschafft.
Trotz Verurteilung durch Europäischen Gerichtshof: Staatliche Willkür gegen gewählten Mufti geht weiter
Es ist nicht das erste Mal, dass der gewählte Mufti von Gümülcine von den griechischen Behörden schikaniert und vor Gericht gebracht wird. Bereits 2018 wurde Şerif von einem griechischen Gericht in Dedeağaç (Alexandroupolis) zu 80 Tagen Gefängnis verurteilt, weil er 2017 an einem Freitagsgebet im Dorf Musaköy der Region Dedeağaç teilgenommen haben soll. Bereits in den 90er-Jahren hatte Şerif erfolglos gegen die rechtswidrige Praxis der Behörden in Griechenland geklagt, die seine Wahl zum Mufti von Gümülcine nicht anerkannten, und sich schließlich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. In ihrem Urteil vom 14. Dezember 1999 stellten die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die Gerichtsprozesse gegen Artikel 9, 10 und 41 der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Gedanken-, Glaubens- und Religionsfreiheit verstoßen, und verurteilten Griechenland zu einer Geldstrafe.
Obwohl Athen an die unterzeichneten und ratifizierten internationalen Verträge gebunden ist und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das EU-Mitglied Griechenland wegen des Verstoßes gegen die Gedanken-, Glaubens- und Religionsfreiheit rechtskräftig verurteilt hat, weigert sich das Land bis heute, die Wahl der Muftis durch die türkische Minderheit in Westthrakien wieder zuzulassen. Die von einem regionalen griechischen Gouverneur ernannten Muftis für İskece (Xanthi), Gümülcine und die Region Evros werden von der türkischen Minderheit in Westthrakien nicht als Religionsgelehrte wahrgenommen, sondern als Beamte des griechischen Staates. Darüber hinaus sind die Befugnisse der „ernannten Muftis“ auf religiöse Trauungen und Scheidungen beschränkt.
Das Parlament in Athen verabschiedete 2007 ein Mantelgesetz, besser bekannt unter dem Namen „Imam-Gesetz 240“, mit dem der gesetzliche Rahmen für die Ernennung von 240 Imamen in Westthrakien festgelegt werden sollte. Von diesen 240 Imamen sollten 100 nach İskeçe, 100 nach Gümülcine sowie 40 nach Dimetoka (Didymóteicho) berufen und von einem fünfköpfigen Ausschuss bestimmt werden, der nur aus griechisch-orthodoxen Christen bestand. Nach Protesten der türkischen Minderheit wurde die Zusammensetzung des Ausschusses so geändert, dass von den fünf Mitgliedern drei muslimischen Glaubens waren. In dem Gremium waren unter anderem ein ernannter Mufti, ein Vertreter des griechischen Bildungsministeriums und ein Akademiker mit islamwissenschaftlichem Hintergrund vertreten. Trotz Widerstands von zivilgesellschaftlichen Institutionen der türkischen Minderheit trat das Gesetz 2013 mit Änderungen in Kraft.
Nationalistische griechische Ideologie verhindert Anerkennung nationaler Minderheiten
Athen ist nicht an einem Dialog mit der eigenen türkisch-muslimischen Minderheit in Westthrakien interessiert, denn es verweigert dieser nicht nur die Anerkennung der religiösen Autonomie hinsichtlich der Mufti-Wahlen durch die Moscheegemeinden, sondern lehnt auch die Ethnizität der Türken in Westthrakien ab. Es passt zur nationalistischen griechischen Sichtweise, wenn nationale Minderheiten wie die türkische oder die mazedonische schlichtweg nicht existieren und im Falle der türkischen Minderheit stattdessen von „griechischen Muslimen“ die Rede ist sowie von einem idealisierten homogenen griechischen Nationalstaat ausgegangen wird, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Griechenland, das sich selbst gerne als „Wiege der Demokratie“ bezeichnet, diskriminiert seit Jahrzehnten Minoritäten im Land und missachtet kontinuierlich Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.