von Mücahid Durmaz
Ankaras selbstbewusstes Eingreifen in die tödliche Hungersnot in Somalia und sein ehrgeiziges, jahrzehntelanges Engagement im Staatsbildungsprozess des langjährigen Bürgerkriegslandes haben den türkischen Einfluss in ganz Ostafrika deutlich erhöht.
Am 19. August 2011 besuchte Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz Warnungen vor möglichen Angriffen das Land, das gerade von Anarchie, Bürgerkrieg, Terrorismus und einer verheerenden Hungersnot heimgesucht wurde. Nun kündigten Ankara und Mogadischu an, von nun an jedes Jahr an diesem Tag den „Somalia-Türkei-Tag“ zu feiern.
In weiten Teilen der Welt galt Somalia zur damaligen Zeit als No-Go-Zone. Ungeachtet der um die Welt gehenden Bilder von verhungernden Kindern hielten westliche Staaten Hilfe zurück. Ihre Begründung: Diese könnte Extremisten in die Hände fallen. Fast eine Viertelmillion Menschen, die Hälfte davon Kinder, sollen diese Zögerlichkeit mit ihrem Leben bezahlt haben.
„Die Tragödie, die sich hier abspielt, ist ein Test für die Zivilisation“, erklärte damals Erdoğan, nachdem er als erster nicht-afrikanischer Staatschef in fast zwei Jahrzehnten in Somalia eingetroffen war und dort überfüllte Flüchtlingslager und verfallene Krankenhäuser in Mogadischu besucht hatte.
Türkei setzte internationale Gemeinschaft unter Zugzwang
Der Besuch löste die größte humanitäre Kampagne in der Geschichte der Türkei aus. Innerhalb von zwei Monaten erreichten zweckgebundene Spenden der Bevölkerung und staatliche Mittel zusammen 300 Millionen Dollar. Ankara organisierte auch eine Dringlichkeitssitzung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) und überzeugte die Mitgliedstaaten, 350 Millionen Dollar für ein Hungerhilfepaket zu sammeln.
Erst die türkische Intervention hatte zur Folge, dass auch internationale Organisationen und diplomatische Einrichtungen in Somalia Hilfe leisteten. 2012 war Somalia der zweitgrößte Empfänger von Soforthilfe und der fünftgrößte Empfänger von Hilfe aus der Türkei insgesamt.
Die Hilfe Ankaras half Somalia, die staatliche Autorität im Land wiederherzustellen. 2012 wurde das erste formelle Parlament seit mehr als 20 Jahren vereidigt, und die Abgeordneten wählten in der ersten Präsidentschaftswahl in Somalia seit 1967 einen neuen Präsidenten.
Während staatliche und nichtstaatliche türkische Akteure vor Ort Hilfe leisteten, gestaltete die Türkei seither die Hauptstadt um, indem sie große Infrastrukturprojekte wie Straßen, Schulen, Krankenhäuser, staatliche Einrichtungen und das Parlament in Angriff nahm. Die Bedeutung des türkischen Engagements im Wiederaufbauprozess des durch Jahrzehnte des Bürgerkriegs belasteten Landes hat auch den Einfluss Ankaras in Ostafrika insgesamt erhöht.
Erstmals wieder funktionstüchtige Strukturen
„Staatsaufbau und nachhaltige Entwicklung sind die langfristigen Lösungen, um zu verhindern, dass sich Krisen wiederholen“, erläuterte Botschafter Mehmet Yilmaz. „Und Aufbau und Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität sind nur mit einem starken Sicherheitsapparat möglich. Daher haben wir diesen Konzepten Vorrang eingeräumt.“
Mittlerweile befindet sich die größte türkische Botschaft in der somalischen Hauptstadt. Türkische Unternehmen haben den Seehafen und den Flughafen von Mogadischu wieder aufgebaut und sich Verträge für die Verwaltung und Wartung der beiden größten Einnahmequellen des Landes gesichert.
Das Engagement der Türkei war auch für die Öffentlichkeit in dem Land sichtbar. Nachdem manche Bürger seit dem Zusammenbruch des Landes im Jahr 1991 keine staatlichen Leistungen mehr erhalten hatten, war mit einem Mal die Rückkehr staatlicher Autorität und Fürsorgebereitschaft wieder sichtbar.
Die Türkei bildete auch Polizei und Armee aus, was den zuvor von Mangelwirtschaft gebeutelten Sicherheits- und Streitkräften erlaubte, wirksamer gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus vorzugehen. Das Kalkül der türkischen Regierung zugunsten der somalischen Souveränität ging auf: Je besser die Nationalarmee selbst in der Lage war, terroristische Elemente in die Schranken zu weisen, umso weniger bestand eine Notwendigkeit, ausländische Truppen im Land zu haben. Deren Präsenz ging in weiterer Folge deutlich zurück.
„Türkisches Modell“ schafft Win-Win-Situationen
Außerdem gewährte die Türkei der Regierung in Somalia einen Kredit von knapp 3,4 Millionen US-Dollar zur Abtragung von Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Zudem soll es eine Spende in Höhe von 30 Millionen US-Dollar in monatlichen Raten von je 2,5 Millionen Dollar geben, die der Konsolidierung des Haushalts und des staatlichen Gefüges in Somalia insgesamt dienen soll.
Die Beziehungen sind im Laufe der Jahre so eng geworden, dass Somalias türkischstämmiger Justizminister Abdulkadir Muhammad Nur scherzte: „Es wäre nicht gelogen zu sagen, dass Türkisch die zweite Sprache Somalias geworden ist.“
Für die Türkei bedeutet dies eine Stärkung des „türkischen Modells“ von islamischen Werten und demokratischer Regierungsführung sowie ein Tor in die Region Subsahara-Afrika. Somalia kommt demgegenüber in den Genuss von Entwicklungsprogrammen, die anders als westliche nicht an Bedingungen geknüpft sind.
Was den Handel betrifft, so erreichten die türkischen Exporte nach Somalia im vergangenen Jahr einen Wert von über 200 Millionen Dollar, während türkische Unternehmen 100 Millionen Dollar in das Land investierten. Zudem hat Ankara seine Beziehungen zu Kenia und Äthiopien vertieft, die sich nun beide am Kampf gegen die terroristische Al-Shabab beteiligen. Die empathische und abgewogene Herangehensweise erlaubt es der Türkei, auch in Konflikten zwischen Regionalmächten am Horn von Afrika zu allen Seiten konstruktive Beziehungen zu unterhalten und bei Bedarf deeskalierend zu wirken.
Instabilität bleibt Risikofaktor
Ein Risikofaktor bleibt dennoch die nach wie vor geringe Stabilität der Gemeinwesen. Die innenpolitische Polarisierung in Somalia bleibt hoch, und Teile der Opposition versuchen auch, mit antitürkischer Rhetorik zu punkten – um so der Regierung zu schaden.
Die Türkei hat deshalb wiederholt deutlich gemacht, die Integrität Somalias unterstützen, sich jedoch nicht in interne Unwägbarkeiten hineinziehen lassen zu wollen. Immerhin bestätigt ein intaktes Wirtschaftswachstum in der Region, dass Ankaras Einfluss positive Wirkungen entfaltet. Allerdings könnten Faktoren wie Instabilität, Corona oder Wirtschafts- und Währungskrisen stetig jäh auftretende neue Herausforderungen schaffen.
28 Aug. 2021
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TRT Deutsch
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