Feride Tavus
Israel bombardiert seit einem Jahr den palästinensischen Gazastreifen. Nach offiziellen Angaben wurden in der Enklave in diesem Zeitraum mehr als 40.000 Menschen getötet und über 150.000 Gebäude zerstört. Fast die gesamte Bevölkerung ist auf der Flucht oder wird von Israel vertrieben. Christof Johnen, Leiter der Internationalen Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), schildert im Gespräch mit TRT Deutsch den verzweifelten Überlebenskampf der Menschen in Gaza.
Wie ist die aktuelle Situation in Gaza nach einem Jahr Bombardierung zu bewerten?
Die Lage für die Zivilbevölkerung ist katastrophal. Für die Familien und Vertriebenen, aber auch für die Helfenden, gibt es praktisch keine garantiert sicheren Orte. Die Intensität der Kampfhandlungen in einem solch dicht besiedelten Gebiet wie dem Gazastreifen führt zu einer flächendeckenden Zerstörung wichtiger Infrastruktur, dies betrifft zum Beispiel die Wasser- und Stromversorgung, aber auch die meisten Krankenhäuser.
Die Einfuhr von humanitären Hilfsgütern bleibt unzureichend, den Menschen fehlt es an Nahrung. Krankheiten und Verletzungen können zum Teil nur behelfsmäßig behandelt werden. Wir gehen davon aus, dass mindestens 70 Prozent aller Menschen in Behelfsunterkünften leben müssen. Hinzu kommt die Unsicherheit, jederzeit wieder vertrieben zu werden.
Wie hat sich die humanitäre Lage entwickelt?
Die Menschen im Gazastreifen sind Gefahren seit Monaten schutzlos ausgesetzt, sie erleben unvorstellbares Grauen. Zehntausende Menschen wurden bereits verletzt und sind getötet worden. Die meisten Menschen sind durch das Erlebte traumatisiert und erschöpft. Trotz erheblicher Anstrengungen vieler Akteure und humanitärer Organisationen war die humanitäre Versorgungslage nahezu durchgehend verheerend. Fehlender, unregelmäßiger und unzureichender Zugang sowie fortlaufende Kampfhandlungen haben zu keinem Zeitpunkt eine verlässliche Versorgung der Zivilbevölkerung erlaubt. Die allermeisten Menschen mussten in den vergangenen zwölf Monaten mehrmals vor Kämpfen fliehen. Die Lebensbedingungen sind für viele, denke ich, schlicht unvorstellbar.
Vor welchen Herausforderungen steht das DRK bei der humanitären Hilfe in Gaza?
Die erste Herausforderung ist, die Hilfsgüter nach Gaza zu bringen. Dank der engen Abstimmung und Zusammenarbeit mit unseren Schwestergesellschaften, unter anderem dem Ägyptischen Roten Halbmond und dem Türkischen Roten Halbmond, konnten wir unsere Schwestergesellschaft vor Ort, den Palästinensischen Roten Halbmond, trotz großer Hürden bei der Einfuhr immer wieder mit Hilfsgütern unterstützen.
Vor Ort übernehmen dann unsere Kolleginnen und Kollegen vom Palästinensischen Roten Halbmond (PRH) die Verteilung der Hilfsgüter. Die Freiwilligen und Mitarbeitenden des PRH leisten seit Monaten ununterbrochen wirklich Unglaubliches. Viele Helfende haben selbst Bekannte und Verwandte verloren. 21 Helfende allein unserer Schwestergesellschaft sind bei Einsätzen bereits ums Leben gekommen. Für sie und für viele andere humanitäre Organisationen sind mangelnde Sicherheit und die enorme psychische sowie physische Belastung sicherlich die größten Herausforderungen.
In welchem Zustand sind in Gaza die medizinischen Einrichtungen und wie werden Verletzte versorgt?
Von 36 Krankenhäusern in Gaza sind weniger als die Hälfte und diese auch nur teilweise in Betrieb. Die konkrete Zahl schwankt immer wieder, aber diese ist nicht entscheidend für die Feststellung, dass die medizinische Kapazität drastisch zurückgegangen ist, während der Bedarf gleichzeitig drastisch nach oben gegangen ist.
Der PRH hat erst vor wenigen Wochen ein Feldkrankenhaus eröffnet, um einen wertvollen Beitrag zur medizinischen Versorgung im Gazastreifen zu leisten. Auch wir haben in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und mehreren nationalen Rotkreuz-Gesellschaften ein Feldkrankenhaus in Rafah errichtet, in dem unter anderem Verwundete versorgt werden können. Dennoch bleibt es aber dabei, dass es im Gazastreifen eine massive medizinische Unterversorgung gibt.
Welche Auswirkungen haben die anhaltenden Angriffe auf das Leben der Zivilbevölkerung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen?
Die Folgen eines bewaffneten Konflikts für Kinder und Jugendliche sind immer besonders drastisch. Viele Kinder und Jugendliche im Gazastreifen sind traumatisiert und mussten mehrmals flüchten, viele haben Familienangehörige und Freunde verloren. Hinzu kommt, dass zum Beispiel durch den Wegfall von Schulunterricht Alltagsroutinen fehlen, die Kindern oft Sicherheit und Halt geben. Auch der PRH bietet regelmäßig Programm speziell für Kinder und Jugendliche an, aber das alles ist natürlich kein Ersatz. Und man darf dabei natürlich nicht vergessen, dass ein solcher Konflikt dauerhafte Spuren hinterlässt, auch an der Infrastruktur und in Form nicht explodierter Sprengmittel wie Minen.
Auch der Libanon wird von Israel bombardiert. Droht dort eine ähnliche humanitäre Katastrophe?
Die aktuelle Eskalation hat dramatische humanitäre Folgen für die Zivilbevölkerung. Über eine Million Menschen mussten fliehen, viele leben in großer Angst und Unsicherheit. Würde man das auf Deutschland übertragen, wären rund 15 Millionen Menschen auf der Flucht. Besonders dramatisch ist die Situation für die Familien, die ursprünglich in den Libanon kamen, um dort Schutz zu suchen. So sehen viele Syrerinnen und Syrer momentan keinen anderen Ausweg, außer nach Syrien zurückzukehren – dies, obwohl ihre Zukunft in dem krisengebeutelten Land mehr als ungewiss ist. Dramatische Entscheidungen wie diese unterstreichen die katastrophale Lage.