Ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland ist von Armut bedroht. / Photo: DPA (dpa)
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Der aktuelle Bericht des Statistischen Bundesamtes (Einkommen und Lebensbedingungen - EU-SILC) offenbart, dass im Jahr 2023 21,2 % der deutschen Bevölkerung, also etwa 17,7 Millionen Menschen, von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht waren. Diese Rate blieb im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert. Innerhalb der Europäischen Union (EU) wird eine Person als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht angesehen, wenn mindestens eine der folgenden drei Bedingungen zutrifft: Personen mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze, Haushalte, die erheblich von materieller und sozialer Entbehrung betroffen sind, oder Personen, die in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung leben.

Ein bemerkenswerter Punkt des Berichts ist, dass trotz eines leichten Rückgangs der Anteil der von Armut bedrohten Personen immer noch bei 14,3 % liegt, was 12 Millionen Menschen entspricht. Der Anteil der Personen, die materielle und soziale Entbehrungen erleiden, beträgt 6,9 %, während 9,8 % der Bevölkerung in Haushalten mit niedriger Erwerbsbeteiligung leben. Das bedeutet, dass etwa 5,7 Millionen Menschen oder 6,9 % der Gesellschaft Schwierigkeiten haben, ihre Rechnungen, Miete, Apothekenausgaben oder sozialen Aktivitäten zu finanzieren. Nach EU-SILC gilt eine Person als von Armut bedroht, wenn ihr Einkommen weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung beträgt. 2023 lag diese Schwelle in Deutschland für eine alleinlebende Person bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.310 Euro und für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.751 Euro pro Monat. Daher zeigt dieser Bericht, dass etwa 12 Millionen Menschen in Deutschland über ein Einkommen unter diesem Schwellenwert verfügen. Zudem konnten 2022 5,5 Millionen Menschen aufgrund von Geldmangel ihre Wohnungen nicht angemessen heizen, und 2,6 % der Bevölkerung ab 16 Jahren konnten sich keinen Internetzugang leisten.

Der Einfluss wachsender Ungleichheit auf Gesellschaft und Politik

In Deutschland besitzen 50 % der Bevölkerung nur 0,9 % des Geldes, während die andere Hälfte über 99,1 % verfügt. Laut WSI-Verteilungsbericht 2023 hat die Ungleichheit in Deutschland im Vergleich zu den 1990er Jahren erheblich zugenommen. Der Gini-Koeffizient, ein Maß für Ungleichheit, stieg von 0,26 im Jahr 1999 auf 0,29 in 2010. Insbesondere in der ersten Hälfte der 2000er Jahre erlebte Deutschland einen signifikanten Anstieg der Einkommensungleichheit. Nach Schwankungen in den 2000ern blieb der Gini in den 2010ern relativ stabil bei 0,29, erhöhte sich jedoch 2020 auf 0,30 und verblieb auf diesem Niveau bis 2022.

Diese Ungleichheit führt hauptsächlich zu drei Problemen: Schwächung der Mittelschicht, wirtschaftliche Instabilität und gesellschaftliche Spaltung. Der zunehmende Reichtum der Reichen und das weitere Verarmen der Armen schwächen die Mittelschicht, was zu einem wirtschaftlich instabilen System führt. Der Rückgang des Einkommensniveaus und der Kaufkraft beeinträchtigt den sozialen Frieden und das Wohlergehen in der Gesellschaft, da dies auch die Grundbedürfnisse der Menschen nach Bildung, Gesundheit und kulturellen Aktivitäten beeinflusst und so zu einer gesellschaftlichen Spaltung führt. Ein signifikantes Ergebnis der Ungleichheit wird im Bericht von Statistik Austria hervorgehoben, wonach die Armen bis zu zehn Jahre früher sterben als die Reichen.

Das Anwachsen der sozialen Ungleichheit in Deutschland wurde auch vom Europarat aufgezeigt. Dem Bericht zufolge steht das hohe Niveau an Armut und sozialer Benachteiligung in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes. Die Europäische Kommission findet die Bemühungen Deutschlands zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten unzureichend und fordert mehr Arbeit in drei Hauptbereichen: die Zugänglichkeit des sozialen Systems für Bürger durch die Regierung zu verbessern, die sozialen Sicherheitsleistungen zu erhöhen und mehr Bildungsmöglichkeiten für Arbeitslose anzubieten.

Soziale Ungleichheit fördert Rechtsextremismus

Ein weiteres gravierendes Problem, das durch die Ungleichheit in Deutschland entsteht, ist die indirekte Förderung von Rechtsextremismus und Rassismus. Menschen mit sinkendem Einkommensniveau wenden sich von den etablierten politischen Parteien ab und neigen zu Alternativen wie der rechtsextremen AfD. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass Menschen, die einen Rückgang ihres Einkommens befürchten, eher zu rechten Parteien tendieren. Während die allgemeine Sorge um finanzielle Sicherheit bei 49 % liegt, beträgt sie unter AfD-Wählern 63 %. Ähnlich verhält es sich mit der Sorge um die Zukunft der eigenen Kinder (45 % im Gesamtdurchschnitt gegenüber 60 % bei AfD-Wählern) und der Sorge um die finanzielle Situation und die Arbeitsplatzsituation (AfD-Wähler zeigen hier deutlich mehr Besorgnis als der Durchschnitt). Daher lässt sich leicht folgern: Mit zunehmender Ungleichheit steigen Rechtsextremismus und als Folge davon Rassismus. Der Aufstieg des Rechtsextremismus schadet der Demokratie und dem friedlichen Zusammenleben in der Gesellschaft.

Wege zur Überwindung sozialer Ungleichheiten in Deutschland

Die in diesem Artikel präsentierten Statistiken werfen ein klares Licht auf die andauernden Herausforderungen im Kampf gegen soziale Ungleichheit, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland. Als eine der führenden Industrienationen der Welt scheint Deutschland bei der Bewältigung sozialer Ungleichheiten nicht signifikant voranzukommen. Das Ausbleiben einer spürbaren positiven Veränderung über Jahre hinweg legt nahe, dass Politik und Interventionen der etablierten politischen Parteien nicht ausreichend wirksam sind. Es wird deutlich, dass ein Bedarf für die Entwicklung innovativerer und inklusiverer Strategien besteht, um materieller Not und Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.

Verbesserungen in der Sozialpolitik sind unerlässlich. Deutschland steht vor der Aufgabe, nicht nur die sozialen Sicherungssysteme zu stärken, sondern auch gezielte Maßnahmen zur Integration von Migranten zu ergreifen, um deren Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu fördern. Gleichzeitig muss das Land wirksame Maßnahmen gegen Rassismus implementieren, um ein inklusives Umfeld für alle Bürger zu schaffen. Darüber hinaus sind Initiativen zur Herstellung einer gerechteren Einkommensverteilung vonnöten, um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern.

Die Situation erfordert ein Umdenken und die Einführung zielgerichteter Politiken, die über traditionelle Ansätze hinausgehen. Nur durch die Annahme und Implementierung von Maßnahmen, die auf die Wurzeln sozialer Ungleichheiten abzielen, kann Deutschland hoffen, die strukturellen Probleme, die zur sozialen Ungerechtigkeit beitragen, effektiv anzugehen. Die Bewältigung dieser Herausforderungen ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens und der Stabilität in einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft. In diesem Sinne muss der Kampf gegen soziale Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung mit erneuertem Engagement und innovativen Ansätzen fortgesetzt werden.

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