Die Umfragen waren diesmal exakt in ihrer Tendenz. Einer Umfrage von Ifop-Fiducial zufolge, die bereits am 7. Juni veröffentlicht wurde, also noch vor der ersten Wahlrunde, würde die Wahlallianz von Macron, genannt „Ensemble Citoyens“, im neuen französischen Parlament zumindest die relative Mandatsmehrheit erringen und damit die stärkste Fraktion bilden. Offen war aber, ob sich eine absolute Mehrheit für „Ensemble“ ergeben könnte. Wiederum nach Mandaten berechnet, würde an zweiter Stelle die Linksallianz „NUPES“ landen, mit Mélenchon als bedeutender Galionsfigur. Und an dritter Stelle würde sich das rechtspopulistische Lager „Rassemblement National“ mit Marine Le Pen als politischer Leitfigur positionieren.
So scheint es jetzt tatsächlich gekommen zu sein. Auch wenn das offizielle Wahlergebnis noch durch das französische Innenministerium beglaubigt werden muss, lautet die Prognose von TF1 für die neue Sitzverteilung im französischen Parlament („Assemblée Nationale“): Macrons Lager (Ensemble) erringt 245 Sitze (38,57 % der Mandate), der Linksblock NUPES 131 Sitze (31,60 %) und der rechtspopulistische Block von Le Pen 89 Sitze (17,30 %). Danach folgen die konservativen Republikaner mit 61 Sitzen (7,29 %).
Wer hat die französische Parlamentswahl gewonnen, wer hat sie verloren?
Es ist somit Gewissheit. Die magische Zahl für die absolute Parlamentsmehrheit lautet „289“. Macron hat dies nicht erreicht. 2017 war es ihm mit 350 Sitzen noch überzeugend gelungen. Vergleicht man die abgegebenen Wählerstimmen für die erste Wahlrunde von 2022 mit der Wahl von 2017, lassen sich folgende Trends ausmachen: Macrons Lager rutschte von 32,33 auf 25,75 % ab. Der Linksblock (La France Insoumise, Sozialisten, Grüne und Kommunisten) legte von 23,26 auf 25,66 % zu, und die rechtspopulistische Partei „Rassemblement National“ steigerte sich von 13,20 auf 18,68 %. Die konservativen Republikaner wiederum erlitten einen Stimmenrückgang von 15,77 auf 10,42 %.
Im Sinne dieser Wahldynamik war es jetzt die politische Linke in Frankreich, mehr noch aber die Rechtspopulisten, die eine Wählermobilisierung schafften. In deutschsprachigen Medien erfolgt jetzt vielfach die rasche Etikettierung, Macron eine Niederlage bei der gerade geschlagenen Parlamentswahl zu attestieren. Argumente dafür lassen sich anführen. Macrons Wahlbewegung verfehlte die absolute Parlamentswahl und erreichte auch nicht mehr den Wähleranteil wie noch 2017. Die Stichwahl zu den französischen Präsidentschaftswahlen am 24. April gewann Macron eindeutig mit 58,55 %. Aber ein bedeutendes Momentum dieser Unterstützung wurde darauf zurückgeführt, dass viele Wähler einen Sieg der rechtspopulistischen Marine Le Pen verhindern wollten. Es war also weniger ein präsidentielles Votum „für“ Macron, sondern mehr ein Referendum „gegen“ Le Pen.
Macron: Verlierer sehen anders aus
Trotzdem ist es überzogen, Macron und seine Wahlbewegung „Ensemble“ als die großen Verlierer der gerade durchgeführten Parlamentswahl darzustellen. Macron gelang die Wiederwahl zum Präsidenten Frankreichs, woran bereits mehrere seiner Vorgänger gescheitert waren. Und seiner Wahlbewegung gelang jetzt auch im Parlament die Etablierung einer relativen Mandatsmehrheit. Macron konnte damit eine „Cohabitation“ doch noch abwenden. Cohabitation bedeutet, dass sich der Präsident einer Parlamentsmehrheit gegenüber sieht, die parteipolitisch in die klar andere Richtung ausschlägt. Dies passierte etwa in den Jahren 1993-1995, als der sozialistische Präsident Mitterrand mit einer konservativen Parlamentsmehrheit konfrontiert war.
Das neue Politikexperiment eines faktischen Regierens in „Koalitionsform“
Macron muss eine neue Regierung einsetzen. Das Momentum des Handelns liegt dabei auf seiner Seite, und seine Wahlbewegung „Ensemble“ verfügt auch über die relative Mandatsmehrheit, aber eben nicht die absolute Mehrheit. Für Frankreich wäre eine Koalitionsregierung ein politisches Novum in seiner jüngeren Geschichte. Solch ein Stil des Regierens würde die politischen Karten neu mischen. Gelänge eine Koalition mit den konservativen Republikanern, so würde dies auf einer absoluten Parlamentsmehrheit aufbauen. Zur Stunde ist es aber noch offen, ob die Republikaner für solch eine Form der Zusammenarbeit offen und bereit sind. Alternativ ergäben sich für Macron und „Ensemble“ ebenfalls die strategischen Möglichkeiten, nach sachpolitischen Mehrheiten im Parlament zu suchen, die sich jeweils in Abhängigkeit zu den konkreten Politikfeldern auf unterschiedlichen Mehrheitsallianzen im Parlament aufbauen ließen.
Insgesamt wird das Regieren für Macron natürlich nicht einfacher werden. Vielleicht sind gewisse Sorgen angebracht, bezogen auf die Stabilität der französischen Politik, etwa aus einer europäischen Perspektive. Gleichzeitig kann diese Herangehensweise einer „Koalitionsregierung“ für Frankreichs Politik aber auch Chancen implizieren, hier ein neues Politikexperiment mit all seinen Möglichkeiten neu eröffnen.