Es wäre sicherlich nicht falsch zu sagen, dass für die österreichische Regierung aus ÖVP und Grünen die Bewältigung der Covid-19 Pandemie das bestimmende innenpolitische Thema des vergangenen Jahres war. Daneben bestimmten die sich in letzter Zeit häufenden politischen Skandale im Umfeld der ÖVP die Tagesordnung. Erinnert sei hier an den Rücktritt der Ministerin für Arbeit, Familie und Jugend, Christine Aschbacher von der ÖVP, die wegen Plagiatsvorwürfen hinsichtlich ihrer Diplom- und Masterarbeiten ihr Amt abgeben musste. Vor einigen Wochen wiederum ordnete die Staatsanwaltschaft für Finanzen und Korruption (WKStA) beim amtierenden Finanzminister Gernot Blümel eine Hausdurchsuchung an. Dieser Vorfall wurde als Endausläufer des „Ibiza-Skandals“ gewertet, der über lange Zeit das Thema schlechthin war und eines der größten politischen Beben in der Geschichte Österreichs auslöste. In dem besagten Skandalvideo spielte der ehemalige FPÖ-Vorsitzende und Vizekanzler Strache die unrühmliche Hauptrolle und prägte damals folgenden Ausspruch: „Novomatic zahlt alle.“
Unmittelbar nach den Anschuldigungen gegen Blümel, der zum engeren Stab um Kurz zählt, eröffnete die Staatsanwaltschaft Wien auch Ermittlungsverfahren gegen das Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Wolfgang Brandstetter, und gegen Christian Pilnacek, Sektionschef im Justizministerium. Die Nachricht, dass nach der Durchsuchung im Büro von Brandstetter, der von 2013 bis 2017 ÖVP-Justizminister war, dessen Computer beschlagnahmt wurde, kursierte in den Medien. Wie schon beim des Amtsmissbrauchs beschuldigten Brandstetter wurden auch beim zwischenzeitlich entlassenen Pilnacek elektronische Geräte beschlagnahmt. Während die österreichische Öffentlichkeit von den erwähnten Skandalen rund um ÖVP und deren Parteiperipherie erschüttert wurde, publizierte die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates (GRECO) ihren Jahresbericht. GRECO, die Berichte im Kampf gegen Korruption veröffentlicht, erklärt im Absatz zu Österreich, dass das Land seit 2017 die Empfehlungen der Staatengruppe nicht hinreichend erfüllen konnte.
Der Prüfstein für Kanzler Kurz: Die Justiz!
Gravierender noch als die oben genannten Missstände ist die Haltung der von Kurz angeführten österreichischen Regierung gegenüber dem Rechtssystem. Nicht nur erklärte Kurz, dass die Durchsuchungen beim Finanzminister Blümel „niederträchtig“ seien, sondern er bezeichnete die ermittelnde Staatsanwaltschaft als „reformbedürftig“. Diese Reaktion wurde in der Öffentlichkeit als „Angst des Bundeskanzlers vor der politischen Verstrickung mit der Ibiza-Affäre“ interpretiert. Bemerkenswert hier erscheint, dass Kurz offenbar verdrängt hat, dass genau die Einrichtung, bei der er jetzt wohl gerne strukturelle Veränderungen vornehmen möchte, seit Jahren von der ÖVP besetzt wird. Nachweislich stellte die ÖVP, mit Ausnahme der sechsmonatigen Übergangsregierung vor den Wahlen 2019, zwischen 2008 und 2020 den österreichischen Justizminister. Offensichtlich offenbart Kurz mit dem Vorpreschen in Form von Reformwünschen seinen Unmut darüber, dass sich die Ermittlungen gegen seine Machtsphäre richten. Denn es bleibt unklar, warum die geforderten Reformen von Kurz, wenn schon nicht vorher, dann doch zumindest in den von ihm als Regierungschef dominierten Jahren 2017 bis 2020 nicht in die Wege geleitet wurden.
Bundeskanzler Kurz verwandelte sich nicht nur sprachlich, sondern auch praktisch in einen Rechtspopulisten
An dieser Stelle kommt uns ein Zitat von Herbert Kickl zur Hilfe, der in der sogenannten 1. Kurz-Regierung, die 2019 aufgrund der Ibiza-Affäre zerfiel, den Posten des Innenministers innehatte. In einem seiner öffentlichen Auftritte offenbarte Kickl seine Ansichten zum Verhältnis von Recht und Politik, indem er sagte: „Ich bin für das Grundprinzip, dass Recht der Politik folgen muss, nicht Politik dem Recht.“ Mit Bezug auf diese Aussage bedeutet die zuvor hier beschriebene Haltung von Kurz, dass er dieses rechtsextreme Gedankengut scheinbar wohl auch verinnerlicht hat, obwohl er noch als Staatssekretär für Integration komplett gegensätzliche Ansichten vertrat. Offensichtlich hat er sich von Kickls Standpunkten zur „Beziehung zwischen Recht und Politik“, zum „Rechtsstaat“ und zum „demokratischen Rechtsstaat“ inspirieren lassen.
Ein näherer Blick auf den Weg von Kurz an die ÖVP-Spitze macht das Bild etwas klarer, da schon dort autoritäre Tendenzen offenbar wurden. Wie man sich erinnern wird, hatte Kurz bei einem Treffen mit ÖVP-Funktionären vor den anstehenden Wahlen am 15. Oktober 2017 damit gedroht, eine neue Partei zu gründen, falls seine alleinige Entscheidungsmacht innerhalb der Partei nicht gewährleistet werden würde. Letztlich musste sich die ÖVP-Führung den Forderungen beugen, da die Angst vor einem gespaltenen Erscheinungsbild und einer weiteren Schwächung innerhalb der Partei überwog. So musste sie hinnehmen, dass Kurz freie Hand bei der Besetzung und Vergabe von Posten bekam, die traditionellen Parteifarben erneuerte und sogar den Parteinamen änderte.
Man kann an vielen Themenstellungen, aber insbesondere an der Flüchtlingspolitik festmachen, dass die heutige ÖVP gravierende Unterschiede zur früheren ÖVP aufweist. Diesbezüglich hat die ÖVP inzwischen nicht nur mit parteiinterner Kritik zu kämpfen, sondern auch mit kritischen Stimmen aus Kirchenkreisen, die als traditioneller Teil der Parteibasis gelten. Diese werfen der ÖVP die zunehmende Distanzierung von ihren christlich-sozialen Wurzeln hin zu einer rechtspopulistischen Partei vor. Ähnlich äußerte sich ein anderes Schwergewicht der ÖVP, Christian Konrad. Dieser kritisierte, dass die ÖVP aufgehört habe eine Partei zu sein, die sich für christlich-soziale Werte einsetzt. Der frühere Vizekanzler und ÖVP-Obmann, Reinhold Mitterlehner wiederum bezeichnete Kurz als „Intriganten“.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die rücksichtslosen Methoden von Bundeskanzler Kurz, die er beim Aufstieg der Karriereleiter in der Politik an den Tag legte, dazu dienten, die Macht sowohl innerhalb der Partei als auch in ganz Österreich an sich zu reißen. Obwohl Experten die Übernahme des rechtsextremen FPÖ-Jargons durch Kurz zunächst als taktischen Schachzug deuteten, sollte bei der Betrachtung der Reaktionen des Bundeskanzlers auf die jüngsten Skandale klar werden, dass es sich inzwischen offenbar um einen grundsätzlichen Wandel handelt. So ist wohl an die Stelle von Sebastian Kurz, der die rechtspopulistische Sprache benutzte, um die ÖVP an die Macht zu bringen, eine ÖVP getreten, die sich zum Ziel gesetzt hat, einen Rechtspopulisten Kurz an der Macht zu halten. Die Frage bleibt, ob der Rechtspopulismus und die autoritären Tendenzen, die Kurz an den Tag legt, diesem immer eigen waren oder ob er sich von der FPÖ so sehr hat beeinflussen lassen. Eine endgültige Antwort steht hier noch aus.