Palästinenser versammeln sich  vor dem Gilboa-Gefängnis im Norden Israels, um ihre Unterstützung für die palästinensischen Gefangenen auszudrücken. (AFP)
Folgen

Der Ausbruch aus dem Gefängnis

Nachdem sechs palästinensische Gefangene aus einem israelischen Hochsicherheitsgefängnis ausgebrochen sind, haben die Spannungen in der historischen Gebieten Palästinas erneut zugenommen. Unter den Ausbrechern befand sich Zakariya Zübeydi, ein Mitglied der Al-Aqsa-Märtyrerbrigade, und fünf weitere Mitglieder der Gruppierung „Islamischer Dschihad“. Dieser Ausbruch ist seit über zwanzig Jahren der erste dieser Größenordnung.

Nachdem klar wurde, dass die Häftlinge aus dem Gilboa-Gefängnis in der Nähe der Stadt Jenin unmittelbar vor der Grenze zum palästinensischen Autonomiegebiet entflohen waren, begann eine intensive Suche nach den Flüchtigen. Im Zentrum von Jenin, wo es während der zweiten Intifada zu heftigen Zusammenstößen gekommen war, gingen bewaffnete Widerstandsgruppen auf die Straße, um die Flüchtenden zu schützen. Dort, wo die Besatzungstruppen allein in den letzten drei Wochen vier Palästinenser getötet haben, gibt es bekanntlich eine starke Tradition des Widerstands.

Nach dem Ausbruch

Als die israelischen Sicherheitsbehörden den Druck auf die Häftlinge erhöhten, um weitere Ausbrüche zu verhindern, kam es zu Aufständen in den Gefängnissen im Süden, etwa Ketziot und Ramon. Es wurde berichtet, dass die israelische Regierung zusätzliche Sicherheitskräfte in die entsprechenden Gefängnisse entsendet hat, nachdem die Aufstände auch auf das Ofer-Gefängnis in der Nähe von Jerusalem und auf das Gilboa-Gefängnis übergesprungen waren, in dem der Ausbruch stattfand. Die von Israel angewandten Methoden zur Unterbindung der genannten Aufstände wurden von der Kommission für Häftlingsangelegenheiten der palästinensischen Autonomieverwaltung verurteilt. Die erwähnte Kommission behauptete zudem, die während der Aufstände ausgebrochenen Brände seien von den israelischen Streitkräften selbst gelegt und dazu genutzt worden, um palästinensische Häftlinge zu kriminalisieren.

Auch wurde von Solidaritätsdemonstrationen für die ausgebrochenen Häftlinge im Westjordanland und Jerusalem berichtet. Nachdem am vergangenen Freitag in der Altstadt von Jerusalem ein palästinensischer Arzt von israelischen Streitkräften ermordet worden war, eskalieren die Zusammenstöße weiter. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die israelischen Streitkräfte bewusst auf unverhältnismäßige Gewalt zurückgreifen und Morde ausgeführt haben, um die Lage vor Ort anzuheizen und palästinensische Zivilisten zu provozieren. Als Resultat dieser Gewaltstrategie der israelischen Streitkräfte, insbesondere in Jerusalem, wurden in den letzten Jahren etliche Palästinenser verletzt und inhaftiert. Außerdem kamen viele Palästinenser durch die in ganz Palästina geschürten Konflikte ums Leben.

Ein Blick auf israelische Gefängnisse

Neben der Tatsache, dass es in Gefängnissen, in denen palästinensische Häftlinge inhaftiert werden, zu Misshandlungen und Folter kommt, ist auch bekannt, dass diese Praxis noch 1997 durch die Justiz geschützt und erst 1999 verboten wurde. Erst kürzlich jedoch bewertete der Oberste israelische Gerichtshof mit dem Tbeish-Urteil „in manchen Fällen“ Folter durchaus als legitime Verhörmethode. Daher ist es auch kein Geheimnis, dass Folter gegen Palästinenser als vermeintlich legitim und legal eingesetzt wird. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Praktiken des Shin Bet, das praktisch „niemals zur Rechenschaft“ gezogene Sicherheitsorgan Israels, durch die erwähnte Entscheidung ermutigt wurden. Während der Covid-19-Pandemie scheiterte der Versuch des Shin Bet, in Israel mit dem Massenzugriff auf die Standortinformationen seiner Bürger Erkrankte zu isolieren, am Obersten israelischen Gerichtshof. Indem das Oberste israelische Gerichtshof jedoch Folter „unter bestimmten Umständen“ zulässt, offenbart es, dass bei bestimmten ethnischen und religiösen Gruppen wohl auf den Schutz der Menschenrechte verzichtet wird.

Die Tatsache, dass Shin Bet die Familien der ausgebrochenen Häftlinge festgenommen und wohl auch mit den genannten Befugnissen verhört hat, macht auch mit Blick auf die jüngsten Aufstände deutlich, dass das israelische Rechtssystem weit davon entfernt ist, einfache Prinzipen wie etwa die „persönliche strafrechtliche Haftung“ umzusetzen. In den vorliegenden Fällen ist noch nicht ersichtlich, wie weit die israelischen Interventionen bei den Gefängnisaufständen gingen und ob von den Grauzonen profitiert wurden, die der Oberste israelische Gerichtshof hinsichtlich der Menschenrechte geschaffen hat. Dazu gilt es zu berücksichtigen, dass über die gesundheitliche Verfassung von erneut festgenommenen palästinensischen Häftlingen nichts bekannt ist und die Umstände, unter denen sie vernommen wurden, ebenfalls unbekannt sind. Und die Weltgemeinschaft schweigt über die systematische Folter, die dort stattfindet.

Israels Gewaltstrategie

Es ist kaum vorstellbar, dass die jedes Jahr im Ramadan beginnende und sich über ganz Palästina ausbreitende Eskalation der Gewalt als Antwort auf die Reaktionen der von der israelischen Seite provozierten Widerstandsgruppen ein Zufallsprodukt ist. Vielmehr drängt sich der Gedanke auf, dass dies das Ergebnis einer Absicherungsstrategie der israelischen Regierung ist. Auf der Grundlage der immer wiederkehrenden Gewaltvorfälle gelingt es dem Shin Bet, seine Sonderbefugnisse weiterhin aufrechtzuerhalten, und mit Blick auf die Weltgemeinschaft wird es einfacher, die Verantwortung dafür auf palästinensische Gruppen abzuwälzen. Damit einhergehend kann davon ausgegangen werden, dass wohl auch die Flucht von Inhaftierten, die der systematischen Folter im Gefängnis nicht mehr standhalten konnten, im Rahmen dieser israelischen Strategie der Überreaktion zu bewerten ist und der Hauptzweck darin besteht, die Kontinuität des oben angesprochenen Systems zu gewährleisten, indem man palästinensische Gruppen provoziert und somit Debatten über die Existenz einer sicherheitsorientierten, dystopischen Ordnung im Keim erstickt.

In einer Grundordnung, in welcher der Oberste israelische Gerichtshof weiterhin Folter legitimiert und der Shin Bet praktisch von jeder Art von Kontrolle ausgenommen ist, wäre ist sinnlos von Israel zu erwarten, dass es ein Interesse an der Beendigung des Konflikts zeigt. Daher erscheint es auch im Rahmen des Möglichen, dass die Gefängnisausbrüche als Eskalationsgrund von israelischer Seite missbraucht werden.

Meinungsbeiträge geben die Ansichten des jeweiligen Autors und nicht die der Redaktion wieder. Für Anfragen wenden Sie sich bitte an: meinung@trtdeutsch.com