Obwohl die Corona-Krise in der Türkei immer noch das Veranstaltungswesen überschattet, begeht Istanbul derzeit sein traditionelles Tulpenfestival. Die Wurzeln der Blumenschau reichen mehr als 300 Jahre in die Periode des Osmanischen Reiches zurück. Seit 2006 wird das Event wieder jährlich im April begangen und erstreckt sich über mehrere repräsentative Orte der Metropole.
Tulpenfestival inspiriert auch weitere Städte
Im vergangenen Jahr wurde das Festival coronabedingt abgesagt. Dass es 2021 wieder stattfindet, soll auch ein Signal für eine allmähliche Rückkehr zur Normalität in der Türkei darstellen. Unter Beachtung pandemiebedingter Vorsichtsmaßnahmen können Bewohner und Besucher der Stadt in diesen Tagen wieder auf dem Sultanahmet-Platz ganze Teppiche aus aufblühenden Tulpen bewundern. Zwar zwingt die Corona-Pandemie den Veranstaltern Abstriche an Umfang und Rahmenprogramm auf – dass die Tulpenschau überhaupt wieder stattfindet, zeigt jedoch, dass die Lebensfreude wieder nach Istanbul zurückkehrt.
Farbenfrohe und fantasievolle Arrangements finden sich auch im historischen Emirgan-Park sowie im Göztepe- und im Gülhane-Park. Mehrere weitere Stadtteile sowie Verwaltungen zahlreicher anderer Städte im Land haben Blumenschauen organisiert, die vom Istanbuler Tulpenfestival inspiriert sind.
Schon seit knapp 1000 Jahren in Kunst und Mystik präsent
Die Tulpen zählen zu den Liliengewächsen und gehören zu jenen Pflanzen, die bereits über mehrere Jahrhunderte hinweg im anatolischen Raum heimisch sind. Bereits im 12. Jahrhundert fand die Tulpe erstmals Beachtung und Verwendung in Ornamenten, an Bauwerken oder in der Dichtkunst.
In der Zeit des Seldschuken-Sultanats Rum waren Tulpen nicht nur in Häusern und Gärten zu finden. Osmanische Künstler und Kunsthandwerker dekorierten später auch ihre Arbeiten mit Tulpenmotiven. Diese tauchten neben der Gartengestaltung auch auf Kleidungsstücken, Teppichen, Bauwerken, Ornamenten, Grabsteinen und sogar auf Kanonen und Schusswaffen auf.
Tulpenmotive fanden außerdem Verwendung in der Dichtkunst, der Kalligrafie, der Dekoration von Büchern und sakralen Gegenständen. Sufi-Orden, Mystiker wie Mevlana Celaleddin Rumi oder Dichter der Diwan-Literatur stellten Überlegungen zum Symbolismus an, der sich in der Farbenpracht und Blüte der Tulpe verberge.
Hohe Symbolkraft der Tulpe in Religion und Kunst
Von der Wange und der Träne einer geliebten Person reichte die Breite der Assoziationen über ein Lächeln bis hin zu Farbe, Ästhetik oder Wirkung eines Weinglases. Auch die Bandbreite der Emotionen, die mit der Tulpe verbunden wurden, reichte vom Aufblühen der Lebensfreude bis hin zu tiefer Trauer – etwa als sich nach innen gekehrte Tulpen als Zeichen der Trauer auf der Grabstätte des spätosmanischen Sufi-Rechtsgelehrten Abdülhakim Arvâsi fanden.
Auch im religiösen Kontext wurde die Tulpe als symbolträchtige Pflanze verstanden. In vielen Teilen des an Symbolsprache reichen Orients wurde sie als Symbol der Einheit Gottes gesehen – zumal das Wort „Tulpe“ im Arabischen in ähnlicher Weise buchstabiert wird wie „Allah“. Die Kron- und Blütenblätter wurden häufig mit Teilen einer Moschee wie Kuppel und Minaretten in Verbindung gesetzt.
Im Persischen wird das Wort für „Tulpe“ ebenfalls wie jenes für „Allah“ buchstabiert, in Gegenrichtung gelesen ergibt sich jedoch auch das Wort „hilal“, das „Halbmond“ bedeutet. Dieser stellt ein in der islamischen Welt gebräuchliches Flaggenzeichen dar.
Mehmed der Eroberer legte großen Wert auf florale Gestaltung
Unter den Poeten, in deren Werken die Tulpe Erwähnung fand, war auch jener, der das Pseudonym „Avni“ benutzte. Hinter diesem verbarg sich niemand Geringerer als Sultan Mehmed II., noch bekannter als „Mehmed der Eroberer“. Nachdem es diesem 1453 gelungen war, das damalige Konstantinopel einzunehmen, soll er dem Zeugnis des Historikers Tursun Bey zufolge beim Wiederaufbau der Stadt dem Blumenschmuck von Gebäuden und Gärten eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Seit der Zeit Mehmeds des Eroberers hatte jeder Sultan des Osmanischen Reiches den Tulpen ein besonderes Augenmerk gewidmet. In der Zeit Ahmets III. (1718-1730) erlangte dies auch weit über die osmanischen Gebiete hinaus an Bedeutung.
In der Kunst setzte unter anderem der Maler und bildende Künstler Abdülcelil Levnî Akzente, der vor allem für seine Miniaturen weit über das Reich hinaus berühmt wurde. Auch der Name des Dichters Ahmet Nedim Efendi, der zu jener Zeit auch in Mittel- und Westeuropa einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte, war untrennbar mit der sogenannten „Tulpenzeit“ verbunden.
In der türkischen Klassik und Volksmusik jener Zeit wurden neue Makams, also typische melodische Muster, kreiert und nach Tulpen benannt. Über den flämischen Maler Jean Baptiste Vanmour fand die Tulpenliebe in der osmanischen Kunst auch in die westeuropäische Malerei Eingang.
Tulpenära als Zeit der Annäherung an das Abendland
Die Begeisterung, die der Westen in jener Zeit für die Tulpe entwickelte, beschränkte sich jedoch nicht allein auf die Kultur und das Geistesleben. Auch wirtschaftlich gewann die Pflanze in Westeuropa an Bedeutung. In den Niederlanden wurden Tulpen flächendeckend gezüchtet, später wurden sie in ganz Europa zum Spekulationsobjekt. Im 17. Jahrhundert sprach man sogar von einem „Tulpenfieber“.
Für das Osmanische Reich bedeutete die Tulpenära – auf Türkisch „Lale Devri“ – eine Blütezeit ohne Kriege, mit ausgeprägtem kulturellem, wirtschaftlichem und diplomatischem Austausch und einer besonders starken Annäherung an Europa. Auch dies war einer der Gründe, warum die Verantwortlichen der Stadt Istanbul im ersten Jahr nach Beginn der offiziellen EU-Beitrittsverhandlungen die Tradition des Tulpenfestivals wiederbelebten.