Seine Erfolge bei der Revision des Versailler Friedensvertrags, dem Anschluss Österreichs und auch in den ersten Kriegsjahren ließen Hitler bei vielen Deutschen zu so etwas wie einer Überfigur werden. „In jenem Irrationalen, in jener Metaphysik des blinden Glaubens, lag dann auch das Eigentliche der Hitler-Bewegung als einer Art politischer Religion“, schreibt der Historiker Ralf Georg Reuth in seinem neuen Buch „Hitler. Zentrale Aspekte seiner Gewaltherrschaft.“ In zehn Kapiteln geht der Autor Fragen nach etwa zum Antisemitismus in Deutschland, zur Schuld an Hitlers Aufstieg oder, ob die Deutschen seine wahren Ziele kannten. Und er bilanziert zum Abschluss Hitlers Erbe, das seiner Auffassung nach auch noch mehr als 75 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft nachwirkt.
Reuth exkulpiert Deutsche vom Vorwurf grundsätzlicher Anfälligkeit für das Autoritäre
Im negativen Sinne sei Hitler die geschichtsmächtigste Figur des 20. Jahrhunderts gewesen. „Er veränderte das Antlitz der Welt wie kein Zweiter“, schreibt Reuth. Er habe die Fundamente der Zivilisation zerstört, damit komme ihm eine universale Bedeutung zu. Beim Aufstieg zur Macht unterstelle die gängige Geschichtsschreibung den Deutschen einen tiefverwurzelten Antisemitismus und einen Hang zu autoritären Strukturen, die dann folgerichtig in Hitler ihren Ausdruck gefunden hätten. Dann, so Reuth, hätte dieser aber schon in den frühen Jahren der Weimarer Republik hieraus Kapital schlagen müssen. Auch der Versailler Vertrag oder später die Weltwirtschaftskrise alleine könnten seinen Aufstieg nicht erklären.
Der Aufstieg Hitlers sei keineswegs linear und konsequent, sondern durch Zufälle, Unterschätzung und äußere Einflüsse geprägt. Der Soldat Adolf Hitler sei nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs Antisemit gewesen und er habe Sympathien für die nun regierende Mehrheitssozialdemokratie gehegt. Erst die Unterschrift der Regierung unter den verhassten Versailler Vertrag radikalisierte ihn. „Aus dem Adolf Hitler mit den sozialistischen Ambitionen wurde nun unter Einfluss seiner Umgebung der Antibolschewist und fanatische Judenhasser Adolf Hitler.“ Selbst seine Ernennung zum Reichskanzler 1933 war eine Frage der Unterschätzung. „Es war dann auch keine Machtübernahme, sondern eine Machtübergabe an einen Parteiführer, der seinen Zenit bereits überschritten zu haben schien.“
Hat keiner was von den Vernichtungsambitionen geahnt?
Seine Erfolge ließen ihn dann zum „Führer“ werden. „Die Menschen, die in die Katastrophe marschierten, glaubten, unter dem Hakenkreuz einer besseren, friedvollen Zukunft entgegenzugehen.“ Seine wahren Absichten kannten die meisten Menschen demnach nicht. „Dass Hitler dem Krieg entgegenstrebte, blieb nicht nur dem Normalbürger verborgen.“ Und seine Erfolge ließen keinen Raum in den Köpfen für Rassenpolitik. Nach dem Feldzug gegen Frankreich sei er auf dem Höhepunkt der Macht gewesen und die Menschen hätten ihn wie eine Gottheit empfangen.
„Dass es sich um einen Vernichtungskrieg handelte, der dann begann, sah zunächst kaum jemand“, schreibt Reuth über den Angriff auf die Sowjetunion. Mit dem Krieg gegen Stalin radikalisierte sich auch das Vorgehen gegen die europäischen Juden immer weiter. Hitler sei in seinem zwanghaften Wahn einer „jüdischen Weltverschwörung“ immer standhaft geblieben. „Und erst das Scheitern im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ließ ihn enthemmt die allerletzten zivilisatorischen Normen in den Wind schlagen und den Befehl zur physischen Vernichtung der europäischen Juden geben.“ Die Mehrheit der Deutschen hätte weiter nicht geahnt, in welcher Wahnwelt Hitler gefangen war und auch der angesichts der Niederlagen verblassende Hitler sei immer noch eine Überfigur gewesen. Dies änderte sich erst zum Ende des Krieges, die Todesnachricht habe dann kaum noch jemanden bewegt.
Normalität gegen Übermoral?
Das Erbe Hitlers und seiner verbrecherischen Gewaltherrschaft lastet Reuth zufolge nach wie vor schwer auf den Deutschen. Die Zeit habe es aber ermöglicht, dass aus Feinden Freunde werden und dass die Nachkommen und Überlebenden des Völkermords im Bewusstsein des Geschehenen den Deutschen die Hand reichten. „Gleichwohl haben die Deutschen Maß und Mitte im Umgang mit der nationalsozialistischen Erblast verloren.“ Scham und Betroffenheit hätten einen nüchternen Umgang mit der Geschichte ersetzt.
Die Flüchtlingskrise 2015 habe die deutsche Gesellschaft polarisiert, ja zerrissen, meint Reuth. Auf der einen Seite gebe es ein Bedürfnis nach nationaler Normalität mit einer deutschen Identität. Auf der anderen Seite reagiere die deutsche „Übermoral“. „Im Angesicht von Auschwitz wird dabei Fremdenfeindlichkeit allzu schnell mit Rassismus verwechselt und Patriotismus mit Nationalismus.“ Wie es weitergehe mit der nach Auffassung von Reuth mit rasantem Tempo auseinander driftenden deutschen Gesellschaft, sei ungewiss. „Doch es besteht der Anlass, daran zu zweifeln, dass die deutsche Demokratie mit der Erblast, die ihr der Menschheitsverbrecher Hitler aufgebürdet hat, noch fertig wird.“