Auch zwei Tage nach der US-Präsidentenwahl ist völlig offen, wer künftig das mächtigste Land der Welt führen wird. Zwar konnte sich Herausforderer Joe Biden mit Siegen in den Schlüsselstaaten Michigan und Wisconsin einen Vorsprung erarbeiten - ob er als erster ins Ziel geht, war am Donnerstag aber weiter offen. Angesichts der möglichen Niederlage eröffnete das Team von Amtsinhaber Donald Trump den Rechtsstreit um den Wahlausgang. Biden zeigte sich siegessicher: „Wir glauben, dass wir die Sieger sein werden, wenn die Stimmauszählung beendet ist“, sagte der Kandidat der oppositionellen Demokraten am Mittwochabend in seinem Heimatstaat Delaware. Trumps Team ging derweil an der juristischen Front in den Angriff: Es kündigte Klagen zum Stopp der Stimmauszählung in Georgia, Michigan und Pennsylvania an, in Wisconsin will es eine Neuauszählung der Stimmen erzwingen. In Michigan verkündeten US-Medien trotz noch laufender Auszählung den Sieg Bidens, weil er nach ihren Angaben uneinholbar vorn lag. Mit Michigan und Wisconsin eroberte Biden zwei Staaten zurück, welche 2016 die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton überraschend an Trump verloren hatte. Bereits am Mittwoch hatten mehrere US-Medien Biden auch Arizona zugeschlagen, wo Trump 2016 noch triumphiert hatte. Dort schmolz der Vorsprung des Demokraten bei der Auszählung im Laufe der Nacht aber, einige US-Medien wie CNN legten sich deshalb zunächst nicht auf einen Wahlsieger in diesem Bundesstaat fest.
Briefwahlstimmen werden oft zuletzt ausgezählt
Arizona eingerechnet lag Biden am Donnerstag bei 264 von 270 notwendigen Wahlleute-Stimmen, er würde demnach also nur noch einen Bundesstaat für den Gesamtsieg benötigen. Ohne Arizona kommt Biden auf 253 Wahlleute. Alle Augen richteten sich deshalb auf die fünf noch nicht entschiedenen Bundesstaaten. Während Alaska als sicher für Trump galt, rechneten Bidens Anhänger fest mit einem Sieg in Nevada, wo das Rennen aber knapper war als erwartet. Überhaupt keine Vorhersage wagten Experten für Pennsylvania, Georgia und North Carolina. Ebenso unklar blieb, wann neue Ergebnisse verkündet werden. Aus der Regierung in Georgia hieß es, das Endresultat könnte vermutlich am Nachmittag (Ortszeit) veröffentlicht werden. Da in den meisten Bundesstaaten die Briefwahlstimmen oft zuletzt ausgezählt werden, rechnete Biden im Laufe der Auszählungen mit weiterem Aufwind - was Trumps Team offenbar verhindern will. Bereits in der Wahlnacht hatte der Präsident in einem beispiellosen Schritt angekündigt, die noch laufenden Stimmauszählungen durch den Gang bis vor das Oberste Gericht unterbinden lassen zu wollen.
Trump prangert angebliches „Verschwinden“ republikanischer Wählerstimmen an
Im Onlinedienst Twitter prangerte Trump später ein angebliches „Verschwinden“ republikanischer Wählerstimmen an, ohne dafür irgendwelche Belege zu präsentieren. Sein persönlicher Anwalt Rudy Giuliani warf den Demokraten vor, gefälschte Wahlzettel eingeschickt zu haben. Auch er legte keine Belege vor. Nach Ansicht der OSZE-Beobachter gibt es keine Grundlage für diese Vorwürfe. „Trumps Manipulationsvorwürfe sind haltlos“, sagte Missionsleiter Michael Link der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. Trumps nächtlicher Auftritt sei „ein grober Missbrauch des Amtes“ gewesen. Trump siegte US-Medien zufolge unter anderem in den Schlüsselstaaten Florida und Ohio. Er lag am Donnerstagmorgen bei 214 Wahlleuten - für einen Gesamtsieg müsste er also alle noch ausstehenden Bundesstaaten gewinnen.
160 Millionen US-Bürger haben abgestimmt - so viele wie noch nie zuvor
Angesichts des engen Rennens und des sich abzeichnenden juristischen Tauziehens stieg vielerorts die Nervosität. An verschiedenen Orten kam es zu teils gewaltsamen Zwischenfällen: Bei Protesten linksgerichteter Demonstranten in Portland wurden mindestens zehn Menschen festgenommen. Die Polizei warnte vor „weitverbreiteter Gewalt“ und Ausschreitungen und rief die Menschen auf, die Innenstadt zu meiden.
In der Metropole Detroit in Michigan versuchte eine Gruppe von Trump-Anhängern, in ein Wahllokal einzudringen, um die Auszählung zu stoppen. Die Gruppe wurde von Sicherheitspersonal gestoppt. Ähnliche Szenen spielten sich vor einem Wahllokal im wichtigen Bezirk Maricopa in Arizona ab, wobei einige der aggressiven Trump-Anhänger ganz offen Waffen bei sich trugen.
Nach Angaben des US Elections Projekts gaben rund 160 Millionen US-Bürger bei der Wahl ihre Stimme ab - so viele wie noch nie zuvor.
Bei der US-Präsidentschaftswahl zeichnet sich ein knapper Wahlausgang ab. Während sich der demokratische Oppositionskandidat Joe Biden angesichts seines wachsenden Vorsprungs vor Amtsinhaber Donald Trump siegessicher zeigte, wiederholte der Präsident seine Wahlbetrugs-Vorwürfe und kündigte eine Klagewelle in mehreren US-Bundesstaaten an. Die nun einsetzende Justizschlacht könnte Trump zugute kommen:
Klagewelle in den Bundesstaaten
Im von Biden gewonnenen Wisconsin verlangt Trumps Wahlkampfteam eine Neuauszählung der Stimmen, in mehreren weiteren Bundesstaaten will es die noch laufende Stimmauszählung stoppen lassen. Im Fokus steht dabei Pennsylvania, wo alle Stimmzettel ausgezählt werden, die bis zu drei Tage nach dem Wahltag beim Wahlleiter eintreffen - sofern sie den Poststempel vom 3. November tragen. Eine Klage gegen dieses Vorgehen hatte der Supreme Court vor der Wahl zwar abgewiesen, die Möglichkeit einer juristischen Prüfung nach der Wahl ließ er jedoch offen.
Sollte Trumps Klage vor dem Supreme Court gegen die verlängerte Stimmauszählung in Pennsylvania erfolgreich sein, hätte dies wahrscheinlich die Ungültigkeit zehntausender per Briefwahl abgegebener Stimmen zur Folge. Experten gehen davon aus, dass vor allem Wähler der Demokraten per Briefwahl abgestimmt haben. Auch in Michigan, wo der Sieg Bidens bereits ausgerufen wurde, und Georgia will Trump die Stimmauszählung gerichtlich stoppen lassen.
Welche Rolle die Zusammensetzung des Supreme Court spielt
Anhänger der Demokraten befürchten eine mögliche Befangenheit des Obersten Gerichtshofs, sollte die Entscheidung über das Wahlergebnis letztlich dort entschieden werden. Seit der umstrittenen Ernennung der Verfassungsrichterin Amy Coney Barrett durch Trump gibt es in dem neunköpfigen Richterkollegium eine deutliche konservative Mehrheit von sechs zu drei Richtern.
Es wäre nicht das erste Mal in der jüngeren US-Geschichte, dass ein Urteil des Supreme Court über den neuen Präsidenten entscheidet. Im Jahr 2000 rief das Wahlkampfteam des Republikaners George W. Bush das Oberste Gericht an, nachdem sein demokratischer Rivale Al Gore eine Neuauszählung der Stimmen im Bundesstaat Florida gefordert hatte. Dort lag Bush mit lediglich 537 Stimmen vorn. Indem der Supreme Court die Neuauszählung verhinderte, machte er faktisch Bush zum Präsidenten.
Wann der Supreme Court einschreitet
Ob das oberste Gericht sich in die Wahl einschaltet, ist nach Einschätzung von Experten ungewiss - auch weil damit alle Aufmerksamkeit auf die politische Haltung seiner Richter gelenkt würde. Der Juraprofessor Derek Muller von der Universität Iowa sagte, Klagen gegen Stimmauszählungen seien nur bei extrem knappen Ergebnissen erfolgversprechend. Sollte das Wahlergebnis - wie im Jahr 2000 - am Ende von nur einem einzigen Bundesstaat abhängen, sei aber mit einem „sehr ernsthaften Gerichtsverfahren“ zu rechnen.
Politische Handlungsspielräume
Trump wäre nicht zwingend auf die Gerichte angewiesen, um sich im Amt zu halten - es gibt auch eine Reihe politischer Unwägbarkeiten.
Zum einen gibt ein Bundesgesetz bei umstrittenen Wahlausgängen in einzelnen Bundesstaaten den dortigen Landesparlamenten das Recht, über die Vergabe der Wahlleute zu entscheiden, die letztlich den Präsidenten wählen.
So könnte Trump Druck auf die republikanisch dominierten Volksvertretungen in den Schlüsselstaaten Michigan, Pennsylvania und Wisconsin ausüben, ihm die dortigen Wahlleute zuzusprechen. Die - allesamt demokratischen - Gouverneure der drei Staaten könnten dagegen Biden die Wahlleute zusprechen. In diesem Fall würde der Machtkampf im Kongress fortgeführt, wobei nicht klar festgelegt ist, wie der Kongress in einem solchen Fall zur Entscheidung kommen soll.
Zum anderen schreibt die US-Verfassung den Mitgliedern des 538-köpfigen Wahlkollegiums keineswegs vor, entsprechend des Wahlausgangs in ihrem jeweiligen Bundesstaat abzustimmen. Zwar hat dies den Ausgang einer Präsidentschaftswahl noch nie verändert: Zwischen 1796 und 2016 scherten insgesamt nur 180 Wahlleute aus. Sollte Biden die Präsidentschaftswahl am Ende mit nur 270 Wahlleuten - dem nötigen Minimum - gewinnen, könnte ein einziger Abweichler ausreichen, um das Wahlergebnis zu sabotieren.