Wenige Monate nach dem offiziellen Abzug der letzten Bundeswehrsoldaten aus Kundus ist die nordafghanische Provinzhauptstadt von den extremistischen Taliban eingenommen worden. Die Miliz gab am Sonntag die Eroberung der Stadt „nach heftigen Kämpfen“ bekannt, Abgeordnete und Bewohner bestätigten die Einnahme. Nur wenige Stunden später fiel mit Sar-i-Pul im Nordwesten die vierte Provinzhauptstadt binnen drei Tagen in die Hände der Extremisten.
Die Taliban haben seit dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im Mai weite Teile des Landes erobert. Die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Kundus ist ihr bislang größter Erfolg. Bereits 2015 und 2016 hatten die Extremisten die Stadt erobert, konnten sie jedoch nie lange halten.
Während des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan war die Bundeswehr etwa ein Jahrzehnt lang in Kundus stationiert. Von 2003 bis 2013 überwachten deutsche Soldaten vom Feldlager Kundus aus die Sicherheit im Norden des Landes. Bis Ende November waren noch rund 100 Bundeswehrsoldaten im „Camp Pamir“ als Ausbilder für die afghanischen Streitkräfte vor Ort. Ende April wurde der Standort offiziell an das afghanische Militär übergeben.
Kabul startet Gegenoffensive
Die afghanischen Truppen starteten nach Angaben des Verteidigungsministeriums eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kundus. „Einige Gebiete, darunter jene mit den Gebäuden des nationalen Radios und Fernsehens, wurden von den terroristischen Taliban geräumt“, hieß es in einer Mitteilung. Die Stadt befinde sich im „totalen Chaos“, berichtete ein Einwohner.
Auch Sar-i-Pul, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, wurde von den Extremisten eingenommen. „Die Regierungsgebäude und alle Einrichtungen dort“ stünden nun unter ihrer Kontrolle, teilten die Taliban mit. Regierungsbeamte und die verbliebenen Streitkräfte hätten sich in eine Kaserne rund drei Kilometer vor der Stadt zurückgezogen, berichtete die Frauenrechtsaktivistin Parwina Asimi der Nachrichtenagentur AFP am Telefon. „Ein Flugzeug kam, konnte aber nicht landen.“
Der Vormarsch der Taliban im Norden Afghanistans könnte sich als Wendepunkt im Kampf mit den Regierungsstreitkräften erweisen. Der Norden gilt seit langem als Hochburg des Widerstands gegen die Extremisten. Die Region ist Heimat mehrerer Milizen und für die afghanische Armee wichtiges Rekutierungsgebiet.
Mehrere Provinzen innerhalb kürzester Zeit besetzt
Am Freitag hatten die Taliban mit der südwestlichen Stadt Sarandsch die erste Provinzhauptstadt eingenommen, einen Tag später folgte Scheberghan in der nordafghanischen Provinz Dschausdschan. Auch vom Stadtrand der Provinzhauptstädte Herat nahe der Grenze zum Iran sowie Laschkar Gah und Kandahar im Süden wurden Gefechte gemeldet.
Die Geschwindigkeit, mit der die Extremisten vordringen, hat das afghanische Militär überrumpelt. Unterstützung erhielt die Armee am Samstag durch das US-Militär, das Taliban-Stellungen in Scheberghan bombardierte. "Die US-Streitkräfte haben in den vergangenen Tagen mehrere Luftangriffe zur Verteidigung unserer afghanischen Partner vorgenommen", sagte Majorin Nicole Ferrara, Sprecherin des US-Zentralkommandos in Washington, der Nachrichtenagentur AFP.
Taliban bombardiert Bastion von Usbeken-Anführer Dostum
Scheberghan ist die Bastion des berüchtigten usbekischen Ex-Generals und ehemaligen Vizepräsidenten Abdul Raschid Dostum. Er stand in den neunziger Jahren einer der größten Milizen im Norden Afghanistans vor, seine Kämpfer gingen mit extremer Härte gegen die Taliban vor. Sollte sich Dostums Miliz aus der Region zurückziehen, wäre dies für die Regierung in Kabul ein herber Schlag. Sie setzt bei ihrem Vorgehen gegen die Taliban nämlich auch auf die Unterstützung durch afghanische Kriegsherren.
Die Regierung in Kabul hat sich bislang nur zurückhaltend zum Fall der Provinzhauptstädte geäußert. Sie erklärte lediglich, die Armee werde die Städte zurückerobern – eine Ankündigung, die das Militär nach der Eroberung dutzender Bezirke und Grenzposten durch die Taliban in den vergangenen Wochen nur selten umsetzen konnte.