Am Tag des britischen EU-Austritts nach fast 50 Jahren Mitgliedschaft haben Politiker auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Zukunftschancen und die eigene Stärke betont. Gleichwohl schwang zum Abschied in Brüssel und auch in Berlin viel Wehmut mit, auch in London herrschte kaum Feierlaune. Am lautesten bejubelten die Brexit-Befürworter die historische Zäsur.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union den Wunsch nach einer engen Beziehung zu den Briten betont. „Das ist ein tiefer Einschnitt für uns alle“, sagte sie in ihrem Podcast. Deutschland wolle aber enger Partner und Freund von Großbritannien bleiben, „denn uns einen gemeinsame Werte“.
Großbritannien ab Samstag kein EU-Mitglied mehr
Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum ist Großbritannien ab Samstag kein EU-Mitglied mehr. Das sei immer noch schade, twitterte Außenminister Heiko Maas, füge aber hinzu: „Morgen schlagen wir ein neues Kapitel auf.“ Bis Jahresende gilt eine Übergangsfrist, in der sich fast nichts verändert. In der Zeit wollen Brüssel und London klären, wie sie künftig im Handel und vielen anderen Politikfeldern zusammenarbeiten. Die Frist ist allerdings sehr knapp.
„Wir gehen in diese Verhandlungen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem gemeinsamen Auftritt mit EU-Ratschef Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli. Die drei hatten sich mit einem Zeitungsbeitrag überall in Europa zu Wort gemeldet. Die Botschaft: Die EU wolle eine möglichst enge Partnerschaft, doch werde sie auch die eigenen Interessen schützen. Mit gutem Willen werde man eine „dauerhafte, positive und sinnvolle Partnerschaft“ aufbauen können, schrieben die drei Präsidenten. Aber: „Ohne gleiche Wettbewerbsbedingungen bei Umwelt, Arbeit, Steuern und staatlichen Beihilfen kann es keinen qualitativ uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt geben.“
Souveränität wichtiger als reibungsloser Handel
Ein hartes Ringen ist absehbar. Wie der britische Premierminister Boris Johnson bereits durchsickern ließ, will er sein Land von der Anbindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn dies Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, will er nach einem Bericht des „Telegraph“ nächste Woche als Ziel ausgeben. Die drei EU-Präsidenten zeigten sich bei ihrem gemeinsamen Auftritt auch selbstkritisch - immerhin ist Großbritannien der erste EU-Staat der Geschichte, der die Staatengemeinschaft verlässt. Als Lehre aus dem Brexit werde sich die EU mehr um die Unterstützung ihrer Bürger bemühen und den Wert des Projekts im Alltag sichtbarer machen, sagte Michel. Gleichwohl betonten sie das Selbstbewusstsein der EU. „Die Geschichte ist hier nicht zu Ende“, sagte Sassoli. Kein Staat könne die Herausforderungen wie die Digitalisierung oder den Klimawandel alleine so gut bewältigen wie gemeinsam. Von der Leyen sagte, angesichts historischer Erfolge könne die EU stolz auf sich sein.
Für Großbritannien die Chance für einen Neuanfang
Johnson betonte seinerseits die Chancen des Neuanfangs für sein Land. „Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels“, erklärte der Premierminister vorab aus einer Videobotschaft, die für den Abend (23 Uhr MEZ) vorgesehen war. Seine Aufgabe sei es nun, das Land zu einen und voranzubringen. Die britische Regierung hatte nur Feiern ohne viel Pomp zum Zeitpunkt der historischen Zäsur um 23.00 Uhr Ortszeit angesetzt - ohne Geläut des Big Ben, nur mit britischen Flaggen am Parliament Square und einem projizierten Countdown am Regierungssitz. In der Downing Street sollen englischer Schaumwein und britische Spezialitäten gereicht werden. Ausgelassene Feiern vor dem Parlament hatten nur die Brexit-Partei und ihr Chef Nigel Farage unter dem Motto „Leave means Leave“ organisiert. Ein Feuerwerk wurde Farage allerdings untersagt. Die EU-Abgeordneten der Brexit-Partei feierten schon am Morgen ihren „Brexodus“ aus Brüssel. „Heute ist der Tag, an dem Großbritannien nach mehr als 40 Jahren wieder frei wird“, sagte die Abgeordnete Ann Widdecombe.
„We still love EU“
Brexit-Gegner in Dover hielten dagegen. „We still love EU“ („Wir lieben die EU noch immer“) schrieben sie auf einem riesigen Banner in der britischen Hafenstadt.
Irlands Premierminister Leo Varadkar betonte in der „Welt“: „Was auch immer geschieht, ich hoffe, dass die Tür immer offen steht, sollte das Vereinigte Königreich jemals entscheiden, zurückkehren zu wollen.“
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble geht nicht davon aus, dass weitere Staaten die EU verlassen. „Die Gefahr sehe ich gebannt, der Ablauf des Brexit hat solche Überlegungen in anderen EU-Ländern eher geschwächt“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.