Hannover: Amtsrichterin lehnt Dolmetscherin wegen Kopftuch ab (dpa)
Folgen

Religionsfreiheit versus Neutralität

Im April 2021 beschloss der Deutsche Bundestag das “Gesetz zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“. Im Mai folgte der Bundesrat. Jetzt fehlt nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten, damit es in Kraft tritt und einen neuen Rechtsrahmen schafft, der das Tragen „großer weltanschaulicher Zeichen“ regelt, wie es in einem Gutachten des Europäischen Gerichtshofs heißt. Notwendig geworden war ein Gesetz, weil das Land Berlin einen Polizeibeamten suspendiert hatte, dessen NS-Tattoos politische Positionen zum Ausdruck brachten, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, die zu schützen Aufgabe der Polizei ist. Ein Gericht hatte dem Land im konkreten Fall Recht gegeben, aber ein Gesetz verlangt, das ein solches Vorgehen gegenüber Beamtinnen und Beamten grundsätzlich regelt. Bislang ist die Praxis in den 16 Bundesländern unterschiedlich. Mit dem neuen Gesetz könnte es zu einer Vereinheitlichung kommen.

Kontrovers ist dieses Gesetz nun weniger wegen der Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte, die mit dem Verbot von Tattoos mit politischer Aussage im Beamtenverhältnis einhergehen. Viel emotionaler wird die Diskussion deswegen, weil auch Kleidungsvorschriften enthalten sind, die als religiöse oder weltanschauliche Aussagen verstanden werden und dadurch gegen eine bestimmte Vorstellung von Neutralität. Wenn dagegen verstoßen wird, beschränkt das Gesetz nicht nur die Wahl der Bekleidung, sondern dadurch auch die Möglichkeit eines öffentlichen Glaubensbekenntnisses und somit die Ausübung der individuellen Religionsfreiheit als verbeamtete Person.

Solche Konfliktfälle sind zahlreich und haben zu gerichtlichen Gutachten und Entscheidungen geführt. Häufig erst in deren Folge hat der Gesetzgeber einen Rahmen geschaffen, um den dann erneut gestritten wird, bis es wieder Anpassungen an eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit und herrschende politische Kräfteverhältnisse gibt. Allgemein mangelt es beim Thema Kopftuchverbot nicht an Meinungsäußerungen und Informationen. Die Argumente und Positionen sind wohldokumentiert und überall zugänglich. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat aktuell zum Thema „Kopftuchverbot“ rund zwei Dutzend Artikel auf ihrer Webseite parat. Die Suchfunktion auf dem Portal der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zeigt 250 relevante Treffer. Konfliktlinien und Argumente des Für und Wider sind auf allen medialen Kanälen präsent und ein Beispiel lebendiger demokratischer Streitkultur.

Das dauerhaft große Interesse am Thema rührt daher, dass es eine hohe emotionale Potenz besitzt und der Umgang damit auf gesellschaftliche Entwicklungen verweist, deren Richtung keineswegs einheitlich ist, sondern das ständige Ringen widerspiegelt, wie mit dieser Frage umzugehen ist. Ich erinnere mich noch, wie verstört ich nach der Lektüre von Orhan Pamuks Roman „Schnee“ war, weil das Kopftuchthema darin zu einem unauflöslichen Gewirr mit tragischen Folgen wurde. Heute berichten mir Bekannte aus Saudi-Arabien von Lockerungen der Bekleidungsregeln im öffentlichen Raum. Gleichzeitig sagen Menschen im multikulturellen Berlin, in dem die Mehrheit angibt, zu keiner Religionsgemeinschaft zu gehören, dass sie sich um die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte sorgen und die Definition von Neutralität überdacht werden müsse. Eine Petition gegen das neue Gesetz hat bereits 170.000 Unterschriften gesammelt, obwohl nicht alle Menschen direkt betroffen sind, sondern die spezielle Gruppe von Beamtinnen und Beamten, für die wegen ihres Dienstverhältnisses besondere Rechte und Pflichten gelten.

Privilegien und das Interesse an der Bewahrung des Status quo

In der christlich geprägten Nachkriegs-Bundesrepublik war die Bekleidung von katholischen Nonnen als Lehrerinnen in öffentlichen Schulen kein Thema, weil sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zum Christentum bekannte. Wo dies nicht der Fall war, galt Atheismus oder die Zugehörigkeit zu anderen Glaubensrichtungen als Privatsache und wurde in Nischen gelebt, die nicht in Konflikt mit der Mehrheitskultur standen. Die kulturelle Dominanz der Kirche war gesetzt und fand mächtige politische Fürsprecher, nicht nur in der Volkspartei mit dem C im Namen.

Das änderte sich erst mit der Zeit durch Zuwanderung, eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen, kultureller Vielfalt und einem wachsenden bürgerlichen Selbstbewusstsein, allgemein für individuelle Freiheitsrechte öffentlich einzutreten und für Minderheiten im Besonderen.

Wer Privilegien hat und repräsentiert, was der Mehrheitsmeinung entspricht, für den stellt der Status quo kein Problem dar, während Veränderung durchaus als Herausforderung empfunden werden kann.

Für die Befürworter einer offenen, liberalen, toleranten, kosmopolitischen Gesellschaft geht es nicht bloß darum, dass jeder Mensch die gleichen Rechte und Lebenschancen erhält. Sie profitieren auch von einer solchen Entwicklung, weil gerade diese ihrem Lebensstil entspricht und zugutekommt. Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft wird und je mehr unterschiedliche Lebensformen gleichberechtigt existieren, umso höher ist das Konfliktpotential als Folge nicht von gescheiterter, sondern von gelungener Integration. Deswegen mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet ein Deutschland im Jahr 2021, das nie liberaler und bunter war, weltanschauliche Meinungsäußerungen reguliert. Aber gerade die gestiegene Vielfalt führt überhaupt erst zu Konflikten, die eine homogenere Gesellschaft in der Vergangenheit nicht kannte. Dem versucht der Staat durch Neutralität zu begegnen und fordert ein entsprechendes Erscheinungsbild seines Beamtentums.

Von Liberalen – nicht im engen Sinne als potentielle FDP-Wählerinnen, sondern in der angelsächsischen Verwendung des Begriffs für die heute vorherrschende Mehrheitsmeinung in Deutschland – wird erwartet, dass sie dafür eintreten, dass Freiheit die Freiheit des Andersdenkenden ist und dass deswegen auch das Recht zu schützen ist, ein Kopftuch oder eine Kippa als Ausdruck religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit zu tragen. Es gehört zum demokratischen Diskurs dazu, die Definition von „Neutralität“ zu hinterfragen, wenn religiöse Symbole verfassungsfeindlichen Abzeichen gleichgestellt werden. Auch der Versuch, das Problem zu lösen, indem eine Unterscheidung zwischen „großen“ und „kleinen“ Zeichen vorgenommen wird, wirkt nicht gerade überzeugend.

Diese Diskussion ist aber keineswegs eine spezifisch deutsche und legt eine Betrachtung in größerem und vergleichendem Zusammenhang nahe. Und entsprechend sollten auch Länder mit konservativen Mehrheiten prüfen, wie sie mit den Rechten einer liberalen Minderheit umgehen, wenn es um den Schutz deren Freiheitsrechte geht.

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