European Union / Photo: Reuters (Reuters)
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In der Hitliste der beliebtesten Stimmabgabetermine stehen alle anderen Wahlen stets vor Europa, egal ob zum Beispiel Kommunal- oder nationale Parlamentswahlen, und dies nicht nur in Deutschland. Man kann viele verschiedene Gründe und Ursachen anführen – die anfängliche Bedeutungslosigkeit der Institution, da es erst in späteren Jahren ein richtiges Mitentscheidungsrecht gab, die Tatsache, dass nur wenige Bürgerinnen und Bürger ihre Kandidatinnen und Kandidaten zum Europäischen Parlament mit Namen benennen konnten, die Vermutung, dass nur Politiker aus der zweiten und dritten Reihe nach Brüssel oder Straßburg geschickt werden, und die generelle Überzeugung, dass alles, was fernab von zu Hause in Europa beraten und entschieden wird, ohnehin keinerlei Bezug zum täglichen Leben hätte.

Könnte man über die ersten Punkte vielleicht noch streiten, muss man aber mittlerweile festhalten, dass die letztere Annahme schlichtweg falsch ist: Die Europäische Union bestimmt unseren Alltag im enormen Ausmaß, Europarecht bricht nationales Recht, und es gibt ja nicht nur das EP, sondern viele weitere EU-Organe, die die Geschicke von in der Brexit-Realität nur noch 27 Mitgliedstaaten bestimmen.

EP-Palastrevolution?

Obwohl nationale Parteien zum EP kandidieren, verbinden sich diese je nach politischer Couleur später im Europaparlament zu Fraktionen; Abgeordnete können auch als Fraktionslose arbeiten. Und hier gibt es einen klaren Sieger: die konservative Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) mit 25,69 % aller Wählerstimmen und 185 Sitzen im 720 Sitze umfassenden EP. Gefolgt von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten S&D mit 19,03 % und 137 Sitzen. Die Liberalen Renew Europe stehen an dritter Stelle mit 11,11 % und 80 Sitzen. Man könnte also sagen, es gäbe weiterhin eine klare bürgerliche Mehrheit unter der Voraussetzung, dass eine Art Große Koalition Grundlage der Politik im EP wird.

Nichts Neues in der EU also? Weit gefehlt, und hier heißt es im Bürgersinne aufzupassen. In drei Ländern kamen rechtsextreme Parteien an erster Stelle: Frankreich (RN), Italien (FdI), Österreich (FPÖ). In zwei weiteren Staaten an zweiter Stelle: Deutschland (AfD), Niederlande (PVV). Wenn wir nun die zugeordneten Fraktionen im EP betrachten, so finden wir die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) mit 10,14 % aller Stimmen und 73 Sitzen, die Fraktion Identität und Demokratie (ID) mit 8,06 % und 58 Sitzen und die Fraktionslosen (NI) mit 6,39 % und 46 Sitzen. In der NI finden wir auch die AfD nach der Trennung von Marine Le Pens RN. Zusammengezählt ein besorgniserregendes Ergebnis: 24,59 % der Stimmen und 177 Sitze. Ein Viertel der europäischen Bevölkerung tendiert also nach rechts außen!

Man stelle sich das schockierende Szenario vor, dass nicht nur in fünf, sondern vielleicht zehn oder gar 15 Staaten die vergleichbaren rechtsextremen Parteien wie AfD oder FPÖ ebenso 25 bis 30 Prozent der nationalen Stimmen hätten ergattern können – eine Rechtsaußenmehrheit im EP wäre das Resultat gewesen.

Prognose: Rechtsruck verkraftbar?

In der Tat ist die Kommission die Exekutive der EU, der Rat das höchste Entscheidungsgremium, das Parlament irgendwo mittendrin, obwohl mit erheblichen Mitbestimmungsrechten. Nur wenige Bürgerinnen und Bürger haben Kenntnis, wie die EU eigentlich funktioniert. Politische Bildung richtet sich zumeist an Parteimitglieder, nicht an die breite Bevölkerung. Wir erkennen ein doppeltes Demokratiedefizit: zum einen die Tatsache, dass nationale Regierungen via Ratsentscheidungen nach wie vor den Weg der EU bestimmen. Zum anderen die Erkenntnis, dass selbst die direkt gewählten Abgeordneten des EP selten im Wahlkreis auftreten, und wenn, dann zu Wahlkampfzeiten.

Der Rechtsruck wie in diesem Beitrag angesprochen ist leider auch ein Zeichen der Zeit – in Deutschland liegt der AfD-Anteil bei Arbeitern am höchsten, Menschen, die seit der sogenannten Pandemie- und der damit verbundenen hausgemachten Energiekrise oftmals kaum mehr wissen, wie man am Monatsende noch das warme Essen für die Kinder auf den Tisch stellt. Dann Österreich – man erkläre bitte einem Vier-Personen-Haushalt, dass der Energiekostenzuschuss knapp über 52 Euro pro Jahr liegt.

Rechtsaußenparteien nehmen das wirtschaftliche Unbehagen weiter Teile der Bevölkerung als Grund, sich als wahre Vorkämpfer einer besseren Welt, einer echten Demokratie vorzustellen. Doch in Wirklichkeit ist dies nur Make-up – was sie wirklich wollen, ist das Ausgrenzen weiter Teile derselben Bevölkerung, vor allem Menschen mit Migrationshintergrund.

Das Europaparlament hat seine Berechtigung und ein enormes Mitentscheidungsrecht. Sich aber den Wählerinnen und Wählern nur alle fünf Jahre einmal kurz am Infotisch in einer Fußgängerzone vorzustellen, ist schon lange nicht mehr gut genug. Das sät Populismus, das nährt Extremismus. Die 720 Mitglieder des EP wären gut beraten, aus ihren Elfenbeintürmen herauszusteigen und die Bedenken der Menschen ernst zu nehmen.

Rechtsruck in Europa – leider. Rechtsruck in Europa umkehrbar – hoffentlich.

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