Symbolbild. Bundeskanzler Olaf Scholz will einen raschen Bau von LNG-Terminals in Deutschland. (dpa)
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Die Projekte Nord Stream und Nord Stream 2 gelten als Geschenke des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder an Deutschland und Europa. Schröder, der mit Putin eng befreundet ist, wechselte kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt zum russischen Energieriesen Gazprom und übernahm darüber hinaus Aufgaben bei einem anderen russischen Unternehmen, Rosneft, was in Deutschland heftig kritisiert wurde. Trotzdem haben die Projekte Nord Stream und Nord Stream 2 – auch dank Schröder – Deutschland zu einem wichtigen Land in der europäischen Energieversorgung gemacht. Mit dem Ausbruch des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine wurde das Ausmaß der Abhängigkeit von Russland im Energiebereich sowohl der übrigen Länder der Europäischen Union als auch Deutschlands offenbar.

Bekanntlich war das Projekt Nord Stream 2 ein Symbol- und Prestigeprojekt für Deutschland und Russland. Es barg jedoch auch das Potenzial, dauerhafte Konflikte in Europa zu verursachen. So löste es in den Beziehungen zwischen den USA und Deutschland sowie zwischen den USA und den EU-Staaten stets politische Debatten aus und war verantwortlich für einen tiefen Riss in den politischen Beziehungen. Das Projekt teilte auch die EU-Länder in zwei Lager. Die noch von der Trump-Administration verhängten Sanktionen verschoben die Fertigstellung der neuen Gasleitung. Überraschenderweise wurden die Vorbehalte von der neuen US-Regierung im vergangenen Jahr ad acta gelegt, was die Aufmerksamkeit erneut auf das Projekt lenkte. So oder so bedeutete die Fertigstellung von Nord Stream 2, dass die Rolle der Ukraine als Transitland bei der Energieversorgung Europas enden würde. Mit dem unerwarteten Ausbruch des Ukrainekriegs wurde Nord Stream 2 vorerst aber gestoppt.

Gefahr von Energieengpässen in Europa

Einen der wichtigsten Punkte in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz im Bundestag am 27. Februar 2022 bildeten seine Ausführungen zu den anstehenden Investitionen im Energiebereich. Diese Aussagen zum Thema Energie wiederholte Scholz auch bei seinem Besuch in Ankara am 14. März. In diesem Sinn scheint für Deutschland mittel- und langfristig die Unabhängigkeit in Energiefragen noch wichtiger zu sein als seine militärische Stärke.

Obwohl die wegen des Ukrainekriegs gegen Russland verhängten Sanktionen dessen Wirtschaft erschüttert haben, wäre der wichtigste Bereich, der das Land wirtschaftlich treffen würde, ein vollständiges Ende der europäischen Energieimporte. Forderungen dieser Art werden in der deutschen Öffentlichkeit immer häufiger von verschiedenen politischen Akteuren geäußert. Aber gerade im Energiebereich gibt es eine von Abhängigkeiten geprägte, geradezu symbiotische Beziehung, insbesondere zwischen Russland und Deutschland. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Ländern hindert Deutschland daran, Russland in Energiefragen herauszufordern. Ebenso kann sich Russland trotz der ausgesprochenen Drohung, Energielieferungen, hier insbesondere Erdgas, nach Europa angesichts der verhängten Sanktionen zu stoppen, diesen Luxus wirtschaftlich nicht erlauben. Trotz der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen transportieren selbst die durch die Ukraine laufenden Pipelines Erdgas mit nahezu voller Kapazität nach Europa. Ebenso transportiert die Nord Stream 1-Leitung Gas mit voller Kapazität nach Deutschland.

Dennoch haben die Entwicklungen zu einem unvorhersehbaren Anstieg der Energiepreise in Europa und Deutschland geführt. Dieser Anstieg wird kurzfristig zu einer erheblichen Belastung für die Haushalte in Deutschland und den übrigen Ländern Europas führen. So gesehen betreffen die Schwierigkeiten Konsumenten in England, Italien und Deutschland gleichermaßen.

Betrachtet man die Äußerungen von Bundeskanzler Scholz näher, zeigt sich die Abhängigkeit Deutschlands von Russland bei Kohle, Öl und Erdgas. Vor allem beim Erdgas werden 94 % des Bedarfs in Deutschland durch Importe abgedeckt, davon 55 % aus Russland. Ebenso importiert Deutschland 36 % seines Öls aus Russland. Entsprechend versucht die neue Bundesregierung, mittel- und langfristig neue Lösungen für das Land zu entwickeln, sowohl was die Diversifizierung der Energieressourcen als auch die Suche nach alternativen Lieferanten angeht.

Das Energiedilemma der Bundesregierung

45 % des in Deutschland verbrauchten Stroms stammen aus erneuerbaren Energiequellen. Von dem für die Energiegewinnung verbrauchten Gas stammen wiederum 19 % aus erneuerbaren Energiequellen wie Biogas. Die Tatsache, dass die Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen wurde bzw. seit November 2021 mit Zertifizierungsproblemen konfrontiert ist und dieser Prozess aufgrund des Ukrainekriegs nunmehr vollständig ausgesetzt wurde, veranlasst Deutschland, kurzfristig nach alternativen Energieressourcen zu suchen, was erneuerbare Energien, aber auch Kernenergie einschließt.

Dabei stellen die noch von der Vorgängerregierung getroffenen politischen Entscheidungen Deutschlands bezüglich einer klima- und umweltschonenden Energiewende die neue Bundesregierung vor besondere Herausforderungen. Entsprechend ist in Deutschland, das eigentlich den Kohle- und Atomausstieg beschlossen hatte, eine ernsthafte Debatte darüber entbrannt, die Laufzeit von Kernkraftwerken, die eigentlich vom Netz genommen werden sollten, zu verlängern. Und um den möglicherweise kurzfristig drohenden Energieengpass zu überwinden, ohne die Industrieproduktion zu gefährden, ist wohl mit einer Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken zu rechnen. Dies wird jedoch auch unweigerlich zu politischen und juristischen Debatten bezüglich der atomaren Sicherheit und der Langzeitfolgen der Anlagen führen.

Aus diesem Grund investiert Deutschland vorrangig in den Bau von LNG-Terminals und den Kapazitätsausbau erneuerbarer Energien, um seinen Energiebedarf weiter zu diversifizieren. Bereits jetzt ist aber abzusehen, dass diese Investitionen zwar langfristig zu Ergebnissen führen werden, für den steigenden Energiebedarf nach der Pandemie aber mehr erforderlich sein wird.

Die Türkei als Schlüsselland

Dass Bundeskanzler Scholz bei seinem Antrittsbesuch in Ankara die „Schlüsselrolle“ der Türkei für die europäische Energieversorgungssicherheit betonte, war besonders wichtig. Dennoch drängen sich unweigerlich Erinnerungen an den berühmten Satz des ehemaligen EU-Energiekommissars Günther Oettinger auf, der im Februar 2013 in Brüssel bezüglich der damals diskutierten Vollmitgliedschaft der Türkei Folgendes zum Besten gab: „Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt mit dem Kollegen aus Paris auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türkei zu bitten: Freunde, kommt zu uns!“

Nun weiß man nicht, ob Oettingers damalige Äußerungen die heutigen Entwicklungen meinten, aber dennoch wären die Folgen, wenn man die Worte des damaligen EU-Energiekommissars jetzt nicht ernst nehmen würde, ziemlich schwerwiegend.

Es scheint, dass der Besuch von Bundeskanzler Scholz in Ankara mit dem Eingeständnis der Bedeutung der Türkei für die Energieversorgungssicherheit Europas und der Anerkennung der türkischen Vermittlerrolle zwischen der Ukraine und Russland zu einer positiven Entwicklung in den türkisch-deutschen Beziehungen führen kann. Die Betonung der Rolle der Türkei als wichtiges Land für die Sicherung der deutschen Unabhängigkeit im Energiebereich durch Bundeskanzler Scholz ist für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern von großer Bedeutung.

Dass Scholz in den zukünftigen bilateralen Beziehungen zur Türkei großes Potenzial sieht und die Art und Weise, wie er dies zum Ausdruck bringt, ist eine richtungsweisende und erfreuliche Entwicklung im Hinblick auf die zukünftigen bilateralen Beziehungen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass sich die aktuellen positiven Entwicklungen in den bilateralen Beziehungen nicht nur auf den Energiebereich beschränken werden, sondern sich überdies eine umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit in allen Bereichen anbahnt. Selbst wenn der Ukrainekrieg zu Ende geht, wird die Bedeutung der Türkei in einer neuen internationalen Ordnung, für die dieser Krieg in Europa wohl sorgen wird, zunehmen.

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