Eines ist sicher: Eine Pandemie wie Covid-19 in relativer Gelassenheit zu überstehen, ist möglich - wenn man sie im eigenen (Winter-) Garten oder vielleicht vom Balkon eines schönen Häuschens in Blickweite zum Strand aussitzt. Ganz anders die Realität, wenn monatelanges „Social Distancing“ im 18. Stock eines innerstädtischen Hochhauses ausgehalten werden muss.
Ich werde diesen „Zweiklassen-Virus“ - der natürlich nicht nur das Vereinigte Königreich betrifft - erneut gegen Ende dieses Artikels beleuchten. Zuerst jedoch einige andere „heiße Themen“, die Großbritannien und in einem Punkt zugleich die enorme Hilfsbereitschaft der Türkei während dieser schweren Zeit betreffen.
Quarantäne für alle Reisenden sinnvoll oder zu spät?
Diesen Sonntag sprach Premierminister Boris Johnson erneut zum britischen Volk; eine gute, fast schon etwas aggressive Rede - wohl um sicherzustellen, dass die Bevölkerung die anhaltende Schwere der Situation versteht. Der Abstieg vom Berg sei gefährlicher als der Aufstieg. Und dann gegen Ende der Ansprache ein Hammer: Bald werde der Premier für alle ankommenden Reisenden eine 14-tägige Haus-Quarantäne auferlegen. Und er meinte „alle“ - also eigene Landsleute genauso wie eventuell bald wieder einreisende Ausländer, egal ob mittels Flugzeug ober über See- und Landweg. Ausnahmen könnten für die Republik Irland in Betracht kommen, eventuell auch Frankreich. Anfang Juni werde es dann so weit sein.
Aber es gibt auch Kritik. Denn seit Beginn der Krise und nach Ankündigung des Lockdowns reisten viele Menschen meistens ohne jedwede Gesundheitskontrolle in das Vereinigte Königreich ein. An einem einzigen Tag waren es mal sogar bis zu 15.000. Viele waren Briten, die repatriiert wurden und aus Corona-Hotspots kamen. Nun stellt sich natürlich die Frage: warum erst jetzt? Ist es nicht eigentlich schon zu spät und überflüssig?
Und wohl weitaus wichtiger: Die am Boden liegende Luftfahrtindustrie Großbritanniens und die steigende Arbeitslosigkeit können nur durch ein pro-aktives Investmentklima und einem allumfassenden Investmentplan bekämpft werden. Das kann die Regierung alleine nicht bewältigen - weder logistisch noch finanziell.
Türkei eilt zur Hilfe, britische Medien verlieren Verstand
Die Nachrichten überschlugen sich; für einige Zeit war eine angekündigte Lieferung von Schutzausrüstung (PSA) aus der Türkei ein heißes Thema in den britischen Medien. Am 7. Mai spitzte sich die Lage dramatisch zu. Der Guardian berichtete am Nachmittag, dass die britische Regierung angeblich bestätigt hatte, dass 400.000 PSA-Artikel aus der Türkei unbrauchbar seien; der offizielle Wortlaut: „Government confirms 400 000 Turkish gowns are useless for NHS (Gesundheitssystem)“. Das Wort „useless“ (nutzlos) machte plötzlich die Runde, auch bei der renommierten BBC.
Alleine der Daily Telegraph versuchte zwar mit investigativem Journalismus, Licht ins Dunkel der Affäre zu bringen. Aber auch hier waren Vorurteile gegenüber allem, was aus der Türkei kommt, omnipräsent. Das spiegelte sich auch in den Schlagzeilen wider.
Fakt 1: Die von London ohne Wissen der Regierung in Ankara beauftragte Firma in Istanbul hatte zu Beginn lediglich 2.500 PSA-Artikel auf Lager und wollte die 400.000 bestellten Artikel erst noch fertigen. Da jedoch der Lockdown in der Türkei Engpässe im Lieferantenstrom verursachte, verzögerte sich die Produktion. Auch hatte die Firma noch keine Ausnahme-Exportgenehmigung. Ankara kam zur Hilfe und stellte diese aus. Da die Anzahl der PSA-Artikel jedoch weit unter der bestellten Menge lag, stellte Ankara aus eigenen Beständen über 67.000 weitere zur Verfügung - eine enorme Hilfestellung der Türkei für das befreundete Vereinigte Königreich.
Fakt 2: Manche der privat hergestellten PSA-Artikel zeigten nach Ankunft in Großbritannien Mängel auf, mehr jedoch nicht.
Fakt 3: Es handelte sich um eine individuelle Bestellung der britischen Seite, die bei einer privaten Firma in der Türkei getätigt worden ist - dennoch war die Türkei zuvorkommend und eilte London zur Hilfe.
Und noch eindeutiger Fakt 4: Bereits am 7. April 2020 schickte die Türkei im Rahmen ihrer globalen Corona-Hilfsaktion 250.000 PSA-Artikel (teils komplett gefertigte Overalls, teils andere wichtige Einzelteile wie Gesichtsmasken oder chirurgische Masken) als Hilfslieferung in das Vereinigte Königreich. Selbst das britische Verteidigungsministerium bedankte sich offiziell dafür!
Der britische Botschafter in der Türkei, Domick Chilcott, stellte noch am selben Abend des 7. Mai 2020 die Dinge richtig. In einem Tweet wies er die von den Medien aufgestellte Behauptung, dass 400.000 von der Türkei gelieferte PSA-Artikel „nutzlos“ seien, zurück. Lediglich eine geringe Anzahl von Overalls eines privaten Herstellers hätten die Qualitätstests nicht bestanden.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer: Herzlichen Dank an so viele britische Kolleginnen und Kollegen für solch einen Fake-News-Abend.
Wintergarten- und Hochhaus-Analogie
Die Umstellung vom Lockdown zurück zur Freiheit in Großbritannien wird wie anderswo leider über die Viruserkrankung hinaus auch anderweitig viele Opfer fordern. Die Existenz vieler Menschen wird durch den Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommen bedroht werden.
Es gibt aber dennoch Licht am Ende des Coronavirus-Tunnels. Sollte die britische Gesellschaft einsehen, dass eine Zweiklassengesellschaft wenig Positives mit sich bringt, sondern dass der Weg nach vorne und ein Besinnen auf kontinentale Modelle der sozialen Marktwirtschaft erfolgversprechender sind, könnte der ökonomische und gesellschaftliche Schaden von Covid-19 zumindest eingedämmt werden.
Niemand sollte dem einzelnen Bürger verwehren, ökonomisch aktiv zu werden und ein gutes Einkommen zu erzielen, oder als Unternehmer Profit zu machen. Wer sich also den Wintergarten in Schottland oder das Haus am Meer bei Brighton leisten kann – bitte schön. Der britische Staat hat aber die Aufgabe, vor allem diejenigen, die (noch) sprichwörtlich im 18. Stock des Hochhauses eines Großstadtbrennpunktes leben, genauso ernst zu nehmen und Politik für sie zu machen.
Vielleicht würden dann auch die Türkei-Schlechtmacher in der britischen Medienwelt neue und weitaus sinnvollere Themen finden, um gedruckt oder gesprochen etwas zur Entwicklung ihrer Gesellschaft beizutragen.