Die Bilder von der türkisch-griechischen Landgrenze sind schockierend: Alleinstehende, ganze Familien, die oftmals mehrere Generationen umfassen. Kinder und Frauen; unschuldig Vertriebene auf der Flucht, auf der Suche nach einer besseren Zukunft anstelle von Todesangst, Verfolgung, Hunger und Not in Kriegs- und Krisengebieten von woher sie kommen. Unerwartete Reaktion: Brutale Zurückweisung, Raub, Misshandlung – aber nicht durch kriminelle Straßenbanden, sondern durch offizielle Grenzschützer. Zurückgewiesen vom EU-Mitgliedsstaat Griechenland, also einer vermeintlichen Vorbilddemokratie.
Man hört in der Hauptstadt Athen die Außengrenzen der Europäischen Union müssten gesichert werden - und wenige Tage nachdem sich die ersten Tausend Menschen Richtung Edirne und weiter zur Grenze aufmachten, hatte die Führungstroika eben jener EU (Kommission, Rat und Parlament) nichts dringenderes zu tun, als genau dorthin zu reisen. Nicht zu vergessen die 700 Millionen Euros im verbalen Reisegepäck (350 Millionen Euro zur sofortigen Auszahlung, weitere 350 Millionen Euro wenn angefordert) als mehr oder wenige kleine Aufmerksamkeit, als Gastgeschenk unter Freunden sozusagen.
Lassen wir uns aber nun kurz die Überland-Grenzregion verlassen und per Luftlinie gerechnet 430 Kilometer nach Süden fliegen. Ist die geplante Weiterreise über Land schon gefährlich genug, kann man das dennoch kaum mit den Risiken einer Meeresüberquerung vergleichen.
Inselbewohner an sich nicht fremdenfeindlich – Athen, Brüssel Komplettversager
Der Schein trügt – wenn man von der türkischen Kreuzfahrtmetropole Kuşadası nach Südwesten oder von dem nur durch einen Bergkamm getrennten Yachthafenresort Didim einige Grade nach Nordwesten blickt. Dann erkennt man Samos am nahen Horizont, eine der bekanntesten griechischen Inseln im ägäischen Meer.
Was die trügerische Ruhe nämlich nicht offenbart - es sei denn man macht sich selbst auf den Weg – ist die Bedeutung von Samos als Zwischenstopp in der Fluchtroute der über 8.000 Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten. Man mag sagen, „das sind aber lokal betrachtet eigentlich doch nur wenige Flüchtlinge“. Wenn man aber diese Zahl mit der gesamten Bevölkerung der Insel – nur knapp über 30.000 – kontrastiert, wird das Dilemma auf einen Blick mehr als deutlich.
Weiter im Norden auf Lesbos haben wir es mit ca. 20.000 Flüchtlingen gegenüber etwas über 85.000 Inselbewohnern zu tun. Da das Aufnahmelager aber lediglich für 3.000 Menschen in Not geplant wurde, spitzt sich die Lage noch dramatischer zu als auf Samos.
Neusten Schätzungen zufolge halten sich mittlerweile mindestens 42.000 Flüchtlinge - nicht verifizierte Angaben sprechen sogar von 50.000 - auf diesen und weiteren ägäischen Inseln (z.B. Chios) auf, weitere 80.000 befinden sich auf dem griechischen Festland.
Obwohl einige Rechtsextremisten, Politiker und Einwohner teilweise gewaltsam gegen Flüchtlinge, Reporter oder Flüchtlingsunterkünfte vorgehen, sieht der „durchschnittliche“ Bürger auf den Inseln die Lage anders: Sie heißen Menschen in Not immer willkommen, können sie aber nicht permanent auf ihren kleinen Vorposten des Festlandes unterbringen. Sie sagen: Lasst die Menschen über unsere Inseln ankommen, aber leitet sie dann weiter zum Festland, um sie dann von dort, minus unserem griechischen Anteil, weiter in alle verbleibenden 26 post-Brexit-EU-Mitgliedsländer zu verteilen.
Auch die Türkei ist verärgert - zu Recht
Der Flüchtlingspakt zwischen Ankara und Brüssel sah unter anderem vor, sechs Milliarden Euro Hilfsgelder bereitzustellen und die Visa-Liberalisierung für türkische Reisende in den Schengen-Raum zu gewährleisten. Dadurch wurden auch „legale“ Einreisen von Flüchtlingen in die EU geregelt, wofür die Türkei ihrerseits welche zurücknahm,
Doch Fakt ist: 1. Nur knapp die Hälfte der versprochenen Gelder sind ausgezahlt worden, andere sind für Projekte in der vagen Zukunft reserviert – aber nur falls von Brüssel akzeptiert. 2. Unter fadenscheinigen Vorwänden wird der Türkei weiterhin die visafreie sechsmonatige Einreise in den Schengen-Raum verwehrt. 3. Die EU droht und agiert forsch bei der Rücksendung von Flüchtlingen, ist aber extrem zurückhaltend bei der Aufnahme „legaler“ Flüchtlinge aus der Türkei.
Moderate Stimmen in Europa brauchen Unterstützung
Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und ein Kandidat für den CDU-Vorsitz, verlautbarte im deutschen Mainstream-Blatt „Bild“ am 1. März dieses Jahres, dass er Präsident Recep Tayyip Erdoğans Ankündigung, „die Grenzen seien offen“, obwohl als Drohung auslegbar, nicht als solche auslege, sondern als Hilferuf verstehe. Indirekt sagte er damit, dass die erwartete nächste Million von unschuldig Vertriebenen aus dem Krisenherd Idlib von Ankara einfach nicht mehr bewältigt werden könne.
Kati Piri, ehemalige Türkei-Berichterstatterin des EU-Ausschusses, und obwohl in der Vergangenheit oftmals kritisch zu Ankaras Politik eingestellt, verlautete nun über soziale Medien, dass nicht die Türkei den Flüchtlingspakt von 2016 aufrecht halten muss - sondern die EU. Die Türkei habe auf die Einhaltung der Vereinbarungen beharrt: doch die EU habe immer noch nicht die Visa-Liberalisierung beschlossen und auch die bis 2018 versprochenen sechs Milliarden seien nicht geflossen. Hinzu komme, dass die Zollunion nicht aufgewertet worden sei und die EU nur rund 25.000 Flüchtlinge aus der Türkei „legal“ in ihre Reihen aufgenommen habe.
Demonstranten in Brüssel, Deutschland – und sogar in Griechenland zeigen Solidarität, nicht nur mit den an der türkisch-griechischen Grenze gestrandeten Menschen, sondern mit allen Flüchtlingen, die Richtung Westen fliehen und flohen.
Wenn die EU endlich versteht, dass der Ursprung des Flüchtlingselends der Bürgerkrieg und das dadurch verursachte unvorstellbare Leid der Bevölkerung vor Ort waren und sind, und nicht ein Zufallsereignis, dann werden Brüssel und Athen vielleicht sogar Ankaras proaktives Engagement zur Wiederherstellung des Friedens südlich seiner Grenze entsprechend würdigen: Stichwort Flugverbotszone und Sicherheitskorridor.