Medizinische Geräte in der Diabetes-Therapie (AA)
Folgen

Die Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus kann Menschen jeden Alters treffen. Die häufigste Form ist dabei mit rund 80 Prozent Typ-2-Diabetes, während Typ-1-Diabetes mit rund 10 Prozent, Schwangerschaftsdiabetes und alle unter Typ-3-Diabetes zusammengefassten Formen deutlich seltener vorkommen.

Was bedeutet es, mit Diabetes zu leben? Welche sozialen Fragen ergeben sich insbesondere für Migranten in Deutschland? Und wo finden Betroffene verlässliche Informationen? Antworten hierauf gibt Faize Berger, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) im Interview mit TRT Deutsch.

Faize Berger ist Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten von der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) (Faize Berger)

Frau Berger, wie viele Menschen sind deutschlandweit von Diabetes betroffen?

In Deutschland erhebt das Robert Koch-Institut (RKI) regelmäßig Daten zur Verbreitung von Diabetes und seinen Begleit- und Folgeerkrankungen. Dabei werden auch die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Bewegung, Übergewicht sowie persönlichen, regionalen und sozialen Faktoren untersucht und die Ergebnisse im Rahmen des Gesundheitsmonitorings veröffentlicht.

Demnach geht man in Deutschland aktuell von 8 Mio. Menschen mit Typ-2-Diabetes aus. Zusätzlich sind 32.000 Kinder und Jugendliche sowie 341.000 Erwachsene von Typ-1-Diabetes betroffen.

Interessant ist auch, dass bei 7,3 Prozent der deutschen Frauen 2019 nach einer klinischen Entbindung Gestationsdiabetes (Schwangerschaftsdiabetes) dokumentiert wurde. Dieser Anteil ist innerhalb von sechs Jahren von 4,6 Prozent auf 7,3 Prozent gestiegen.

Wie sieht die Versorgung von Diabetes-Patienten in Deutschland aktuell aus?

Die Umstellungen in der klinischen Versorgung zu Gunsten infektiologischer Maßnahmen im Kontext von COVID-19 hat in Deutschland zu einer Unterversorgung von chronisch Erkrankten und Personen mit akuten Beschwerden geführt. Ärztinnen und Ärzte aus der Endokrinologie und Diabetologie berichteten von einem wahrnehmbaren Rückgang der Patientenzahlen in Praxen und Ambulanzen.

Teilweise wurden sogar Diabetesabteilungen zu Gunsten der Versorgung von Patienten mit COVID-19 geschlossen. Vielen Patienten haben ebenso wie Kliniken und Praxen aus diesem Grund dringliche Vorsorge- und Behandlungstermine verschoben.

So befinden wir uns angesichts der Corona-Pandemie momentan in einer schwierigen Phase. Durch die entstandenen Diskontinuitäten in der Versorgung der Menschen mit einer chronischen Erkrankung können auch mittel- und langfristige Probleme entstehen.

So können Infektionskrankheiten insbesondere bei Menschen mit schlecht eingestelltem Diabetes und Diabetesfolgeerkrankungen wie Herzkreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Nierenerkrankungen, Polyneuropathie und Gefäßerkrankungen für einen schwereren Krankheitsverlauf sorgen.

Schwere Hypoglykämien (Unterzuckerung) stellen für Diabetespatienten ebenfalls eine unterschätzte akute Gefahr dar. Durch eine sogenannte Ketoazidose kann der Betroffene ins Koma fallen. Eine solche Stoffwechsel-Entgleisung durch Insulinmangel kommt häufig bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes vor.

Nicht zuletzt hat sich die Corona-Pandemie auch auf das psychische Wohlbefinden von Menschen mit Diabetes ausgewirkt. Lockdowns und Maßnahmen erschweren das Treffen von Selbsthilfegruppen, bei vielen haben Ängste und depressive Verstimmungen zugenommen.

Hatte die Corona-Pandemie auch positive Auswirkungen auf die Diabetes-Versorgung?
Ja, durchaus. Positiv ist, dass uns telemedizinische Lösungsansätze und Online-Schulungsmöglichkeiten in der gesamten Gesundheitsversorgung einen Schritt weitergebracht haben. Seit der Corona-Pandemie schulen Behandler Menschen mit Diabetes online.

Technologie ist heute ein integraler Bestandteil von Diabetes­therapie. Für ihren optimalen Einsatz setzt sich auch die Arbeitsgemeinschaft Diabetes-Technologie der DDG (AGDT) ein. Sie prüft und bewertet u.a. die auf dem Markt angebotenen digitalen Anwendungen nach verschiedenen Aspekten wie Funktionalität, Qualität, Sicherheit, Interoperabilität, Datenschutz und -sicherung.

Über das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das Ende 2019 in Kraft getreten ist, können heute außerdem digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) wie z.B. Apps und Videosprechstunden durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen und von Ärzten und Psychotherapeuten verordnet werden.

Speziell für Diabetes gibt es im sogenannten DiGA-Verzeichnis bereits ein Produkt für Menschen, die eine insulinabhängige Therapie durchführen. Weitere DiGAs, die in Zusammenhang mit Diabetes Relevanz haben, betreffen z.B. Adipositas (Übergewicht), Raucherentwöhnung und Therapien gegen Angst und Depressionen.

Darüber hinaus sind uns bei der DDG allein in Deutschland über 100 Apps in Bezug auf Diabetes bekannt: Ernährungstagebücher, zur Unterstützung von Kohlenhydratschätzung oder Insulintherapie. Zwischen Diabetes, Ernährung und Bewegung und Depression gibt es nachgewiesene Zusammenhänge.

Fettleibigkeit (Adipositas) hängt also mit der Entstehung von Diabetes zusammen?

Das ist oft der Fall. Bei Vorliegen einer Adipositas ist das Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, dreifach erhöht. Nach Auswertung strukturierter Behandlungsprogramme (Disease Management Programme, DMP) können 80 Prozent der Fälle von Typ-2-Diabetes auf Adipositas zurückgeführt werden.

Seit Jahren beobachten wir, dass Menschen mit Migrationshintergrund den Zusammenhang zwischen Adipositas und der Entstehung von Typ-2-Diabetes nicht im Blick haben. Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Behandler und Patienten auf diesen Zusammenhang zu sensibilisieren.

Wo liegen allgemein die Ursachen für die Stoffwechselerkrankung Diabetes?

Diabetes mellitus, im Volksmund Zuckerkrankheit oder „Zucker“ genannt, ist eine chronische Stoffwechselerkrankung. Bei dieser Erkrankung ist der Blutzuckerspiegel im Körper dauerhaft erhöht, weil die Aufnahme von Glukose aus dem Blut in die Körperzellen gestört ist.

Im gesunden Körper wird der aus der Nahrung gewonnene Zucker durch das Hormon Insulin in den Körperzellen verwertet. Dafür benötigt der Körper das Hormon Insulin. Bei Menschen mit Diabetes ist die Wirkung von Insulin vermindert bzw. die Bauchspeicheldrüse produziert zu wenig bis gar kein Insulin mehr.

Auf Grund dieser Störung wird grundsätzlich zwischen Typ-1- und Typ-2-Diabetes unterschieden. Typ-1-Diabetes tritt meistens im Kindes- oder Jugendalter auf, aber auch Erwachsene können an Typ-1-Diabetes erkranken. Typ-2-Diabetes betrifft eher Menschen nach dem 40. Lebensjahr. Daher wurde es früher als Altersdiabetes bezeichnet.

Es gibt aber auch andere Diabetes-Typen, die seltener auftreten, z.B. Schwangerschaftsdiabetes, der erstmals während der Schwangerschaft diagnostiziert wird, und Diabetes-Formen, die nicht Typ-1- und Typ-2-Diabetes zugeordnet werden können und deshalb unter Typ-3-Diabetes zusammengefasst werden.

Zu Typ-3-Diabetes zählen sehr unterschiedliche Erkrankungen, bei denen eine diabetische Stoffwechsellage entsteht, z.B. Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse, des Hormonsystems, vererbte genetische Defekte der Beta-Zellen (MODY-Formen) oder durch Nebenwirkungen anderer Erkrankungen.

Welche Symptome zeigen an, dass Diabetes vorliegen könnte?

Die chronische Erkrankung ist mit einer dauerhaften Überzuckerung verbunden. Das merkt man beispielsweise, wenn man ein sehr starkes Durstgefühl entwickelt, Muskelschwäche empfindet und Gewichtsverlust bemerkt, verstärkten Harndrang verspürt, Wunden schlecht heilen, Sehstörungen entstehen oder man juckende, trockene Haut bekommt.

Diabetes kann auch zu gefährlichen Stoffwechsel-Entgleisungen führen. Diese Entgleisung (Ketoazidose) ist ein Notfall und muss schnellstens im Krankenhaus behandelt werden. Symptome hierfür sind vor allem Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, häufiges Wasserlassen, vertiefte Atmung, Sehstörungen, Mundtrockenheit, Müdigkeit, Benommenheit, Verwirrung, süßlich nach Aceton riechender Atem oder Urin. Dies kann zu Bewusstseinsverlust bis hin zum Koma führen.

Wie erfolgt die Diabetes-Diagnostik beim Arzt?

Die Krankheit entwickelt sich meist schleichend, und ihre Anzeichen sind oft unspezifisch. Daher bleibt Typ-2-Diabetes in vielen Fällen über Jahre unentdeckt. Häufig ist der krankhaft erhöhte Blutzuckerspiegel ein Zufallsbefund, wenn sich die betroffene Person auf Grund einer anderen Erkrankung beim Arzt untersuchen lässt oder dieser nach einer Blutanalyse einen Verdacht entwickelt hat.

In einer vertiefenden Analyse geht es beim Arzt dann darum, ob es in der Verwandtschaft Menschen mit Diabetes gibt, wie man sich ernährt und bewegt – aber auch um Fakoren wie Taillen-Umfang, Körpergröße und -gewicht, Rauchverhalten und Labor-Diagnostik.

Um die Erkrankung frühzeitig feststellen und möglichen Folgeerkrankungen vorbeugen zu können, sind regelmäßige Gesundheitschecks beim Arzt oder Blutzuckermessungen in der Apotheke zu empfehlen.

Übrigens kann jeder mit Hilfe eines Diabetes-Risikotests sein Risiko, an Diabetes zu erkranken, ermitteln und die Ergebnisse mit seinem Hausarzt besprechen. Zwei gängige Test sind im Internet zugänglich und online durchführbar: FINDRISK wurde von der Deutschen Diabetes Stiftung entwickelt, der DEUTSCHE DIABETES-RISIKO-TEST® DIfE vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung. Beide sind in verschiedenen Sprachen erhältlich.

Wie sehen die Behandlungspfade bei den einzelnen Diabetes-Typen aus?
Vor Behandlungsbeginn bei Typ-2-Diabetes legt der Patient gemeinsam mit seinem Arzt persönliche Ziele für die Behandlung fest. Feste Vorgaben gibt es dafür nicht. Welche Änderungen und Zielwerte sinnvoll sind, hängt u.a. vom Alter, den Bedürfnissen und den Lebensumständen des Patienten ab. Weitere Erkrankungen spielen ebenfalls eine Rolle. Behandlungsziele werden für Lebensstil, Blutzucker- und Blutfett-Werte, Körpergewicht und Blutdruck vereinbart. Familie, Freunde oder Selbsthilfegruppen können bei der Zielerreichung mit unterstützen.

Bei Typ-1-Diabetes, d.h. wenn der Körper kaum oder kein Insulin produziert, muss Insulin in der erforderlichen Menge von außen – mit einem Insulin-Pen, einer Pumpe oder Spritze – zugeführt werden.

Grundlage jeder Diabetes-Behandlung ist ein angepasster Lebensstil. Dazu gehören körperliche Aktivität, Verzicht aufs Rauchen und eine ausgewogene Ernährung. Falls diese Maßnahmen ausreichen, um den HbA1c-Zielwert zu erreichen, kommt der Patient ohne Medikamente aus.

Sind Medikamente erforderlich, raten Fachleute zunächst zu Tabletten mit dem Wirkstoff Metformin. Einigen hilft es, wenn sie von Anfang an eine Kombination von Diabetes-Medikamenten erhalten. Wenn die Blutzuckerwerte trotz Metformin oder einer Kombinationsbehandlung dauerhaft zu hoch bleiben, kommen weitere Medikamente hinzu.

Diabetes ist vor allem deshalb gefährlich, weil zunächst keine eindeutigen Beschwerden auftreten, es jedoch zu schweren Folge- und Begleiterkrankungen wie Blindheit, Neuropathie, Nierenproblematik oder dem diabetischen Fußsyndrom kommen kann. Es ist viel gewonnen, wenn die Blutzuckerwerte gut eingestellt sind und die ärztlichen Empfehlungen eingehalten werden.

Wie digital ist die Therapie von Diabetes heutzutage?

Sehr. Zeitgemäße Diabetes-Therapie mit digitaler Datenerfassung ist ohne adäquate Software ambulant und stationär nur noch bedingt möglich. Elektronische Lösungen zum Datenmanagement spielen bei der Behandlung von Diabetespatienten eine zunehmend wichtige Rolle.

Die Digitalisierung kann die Lebensführung und das Krankheitsmanagement enorm erleichtern. Zum Einsatz kommt Diabetes-Technologie z.B. bei der Blutglukosemessung (SMBG-Systeme = Selbstmessung der Blutglukose), bei der Gewebeglukosemessung (CGM-Systeme = Kontinuierliche Gewebeglukosemesssysteme), bei der Insulinabgabe durch Insulinpens oder Insulinpumpen, die erfassen, um welche Uhrzeit und in welcher Menge Insulin gespritzt wurde, aber auch beim automatischen Messen des Blutzuckers über die Insulin-Injektion bis hin zu Datenmanagement, Medikamenten und Schulungen.

Die automatisierte Insulindosierung (AID) stellt eine neue, wichtige Alternative in der Therapie dar. Das AID-System besteht aus drei Komponenten, um automatisch Insulin zu dosieren. Neben dem CGM-System braucht es eine Insulinpumpe und einen Algorithmus, der berechnet und steuert, wie viel Insulin die Pumpe abgeben soll. Die Anwendung von AID ist ohne Schulung nicht möglich oder empfehlenswert.

Welche Trends beobachten Sie am Diabetes-Markt?

Wir haben eine sehr gute Grundlage in der Versorgung von Menschen mit Diabetes. Leider sind Patienten und Angehörige nicht immer gut und vollständig informiert.

Medizintechnikunternehmen legen den Fokus heute verstärkt auf Patientenfreundlichkeit. Sie wollen am Markt zugelassene Geräte für die Patienten weiter optimieren.

All das braucht jedoch eine Vorbereitung und Schulungen, sodass Betroffene wissen, wie sie mit sich selbst umgehen müssen. Gerade bei Älteren und Dementen, deren kognitive Fähigkeiten nachlassen, ist dies eine Herausforderung. Die junge Generation ist da deutlich technik-affiner. Aber auch Behandler müssen lernen, wie man mit den Geräten umgeht, Kurven liest und Grafiken interpretiert. Das ist eine Datenwelt für sich.

Wie managen Menschen mit Diabetes heute ihre Daten?

In der konventionellen Therapie werden therapierelevante Informationen wie Blutzucker-Messwerte, die gespritzte Insulin-Menge und die Ernährung im Diabetes-Pass eingetragen und die Therapie auf Basis dieser Daten beim Arztbesuch besprochen.

Wo Diabetes-Technologie zum Einsatz kommt, übermitteln Sensoren kontinuierlich in großen Mengen Daten. Diese werden vom Patienten, Angehörigen oder Arzt per Smartphone ausgelesen. Der Patient muss nicht einmal mehr in die Praxis kommen, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. Die Blutzucker-Einstellung lässt sich auch per Telefon- oder Videoberatung vornehmen.

Was ist derzeit das größte Anliegen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)?

In der stationären Versorgung haben wir festgestellt, dass je nach Region bis zu jeder vierte Patient, der mit beliebiger Diagnose ins Krankenhaus kommt, zugleich nicht diagnostizierte Diabetes hat. Es gilt somit, die Screenings in der Versorgung zu verbessern..

Um die Versorgungsqualität zu sichern, bietet unsere Fachgesellschaft Zertifizierungen für Einrichtungen an und entwickelt interdisziplinär die Therapieleitlinien für die Diabetes-Therapie. Die AG Diabetes und Migranten steht dabei mit Blick auf Menschen mit Diabetes mellitus aus verschiedenen Sprach- und Kulturräumen als Querschnittskompetenzträger zur Verfügung.

Migranten haben ein deutlich höheres Risiko, an Diabetes mellitus zu erkranken, als die einheimische Bevölkerung. Dieses Risiko wird oft durch die migrationsbedingten Lebensumstände verstärkt. Leben mit einer chronischen Erkrankung fordert die Betroffenen, ihre Angehörigen und die Behandler. Ohne Berücksichtigung kultureller Besonderheiten und Sicherstellung der Verständigung können große Teile dieser Bevölkerungsgruppe nicht bedarfsgerecht behandelt werden. Daraus entstehen verschiedene Herausforderungen.

Welche spezifischen Hürden gibt es für Migranten mit Diabetes?
Migranten haben, bedingt durch den anderen kulturellen und individuellen Hintergrund (Bildungsgrad, Grund und Dauer der Migration etc.), häufig ein anderes Verständnis von Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und Krankheit als die einheimische Bevölkerung. Das gilt insbesondere für chronische Erkrankungen. Das Wissen über die Zusammenhänge zwischen Lebensstil und Krankheit sowie den Krankheitsverlauf beeinflussende Faktoren unterscheidet sich stark.

Der kulturelle Hintergrund und in manchen Fällen mangelnde Sprachkompetenz, Analphabetismus, niedriger sozioökonomischer Status sowie Schwierigkeiten im kulturellen Kontext können daher den Zugang zu Vorsorge und Behandlung behindern. Dies zeigt sich auch im geringen Prozentsatz der Migranten, die eine Vorsorgeuntersuchung in Anspruch nehmen.

Patienten haben individuell unterschiedliche Überzeugungen, die in vielen Fällen nicht nur der Meinung des Behandlers, sondern auch den in der eigenen Community geltenden Meinungen widersprechen können. Diese können mit evidenzbasierten Therapieempfehlungen in Konflikt treten. Erfolgreiche Diagnose und Therapie setzen deshalb ein gemeinsames Verständnis des Behandlers, Patienten und zum Teil auch der Angehörigen voraus.

Was braucht es für eine kultursensible Diabetes-Behandlung?

Um andere Kulturen im therapeutischen Kontext zu verstehen, bedarf es einer Offenheit und kultursensiblen Haltung gegenüber den konkreten Bedürfnissen dieser Menschen. Im Rahmen der Therapie spielen neben dem reinen Migrationshintergrund die Generationszugehörigkeit und der Ort der Sozialisation wichtige Rollen.

Um die Versorgung für die Bevölkerungsgruppe mit Sprachbarrieren zu verbessern, muss deshalb an erster Stelle die Verständigung sichergestellt werden. Die Dekodierung kulturspezifischer Signale ist ein zweiter Aspekt, für den Behandler sensibilisiert werden müssen.

Die AG Diabetes und Migranten der DDG hat dazu in den letzten 16 Jahren zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht. So setzen wir uns z.B. dafür ein, dass Studierende bereits in Wahlfächern auf praktische Diabetologie und transkulturelle Patientenbetreuung aufmerksam gemacht werden.

Denn wir wissen heute durch die Prognosen von Fachexperten, dass die Diabetes-Prävalenz bis 2040 voraussichtlich von 8 auf 11,5 Mio. Fälle ansteigen wird. Das bedeutet, dass der Bedarf an Therapie und Versorgung weiter wächst und wir den Personalbedarf bei Diabetologen und Fachpersonal sicherstellen müssen.

Sind Migranten häufiger von Diabetes betroffen?

Migranten bekommen im Schnitt fünf Jahre früher Diabetes mellitus als in ihren Heimatländern. In der Altersgruppe über 55 leiden etwa doppelt so viele Migranten wie Nicht-Migranten an Diabetes mellitus. Besonders stark betroffen sind Frauen.

Zum Zeitpunkt der Diagnose ist die Erkrankung zudem meist weiter fortgeschritten als bei Nicht-Migranten. Die Hauptrisikofaktoren Übergewicht, fehlende situationsadäquate Ernährung und Bewegung sind im Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung bei vielen Migrantenpopulationen noch ausgeprägter und damit bedeutsamer.

Hinzu kommt: Die Belastung von Migranten durch Entwurzelung, Rollenverlust, unerfüllte Lebensperspektiven, Stress durch gesellschaftlichen Anpassungsdruck und kulturelle Konflikte ist ungleich höher – und nicht selten ist der Zusammenhang zwischen diesen Aspekten und einer Diabeteserkrankung nicht ausreichend im Bewusstsein verankert.

Nach Studienlage tritt Schwangerschaftsdiabetes (Gestationsdiabetes, GDM) überdurchschnittlich oft bei Frauen mit Migrationshintergrund auf. Liegt GDM einmal vor, tritt sie auch in weiteren Schwangerschaften häufig erneut auf. 35 bis 60 Prozent der betroffenen Frauen entwickeln im Laufe von zehn Jahren nach Entbindung einen manifesten Diabetes mellitus. Die entsprechenden Nachsorgeuntersuchungen nehmen Migrantinnen leider oftmals nicht wahr.

Welche weiteren Anliegen hat die AG Diabetes und Migranten?

In Deutschland liegen zur Prävalenz, Inzidenz und Mortalität von Diabetes mellitus sowie den Folge- und Begleiterkrankungen bei Migranten nur unvollständige Informationen vor. In diesem Kontext ist die AG Diabetes und Migranten kontinuierlich mit Wissenschaftlern und Institutionen im Austausch.

Wir befassen uns mit der Herausgabe von Schulungs- und Beratungsmaterialien, der Kommunikation rund um Diabetes, publizieren in verschiedenen Fachzeitschriften und -büchern und haben ein transkulturelles Beratungsteam initiiert. Bei fremdsprachigen Arbeitsmaterialien stellen wir die Qualität bei den Übersetzungen innerhalb und außerhalb der DDG sicher.

Die AG Diabetes und Migranten organisiert auf den DDG Kongressen und Herbsttagungen u.a. Symposien und begleitende Workshops. Themenschwerpunkte sind dabei z.B. Schwangerschaft, Arbeitswelt, Depression, Ernährung im Kontext Diabetes und Migration.

2019 wurde erstmals die Praxisempfehlung „Diabetes und Migration“ zu den Therapieleitlinien auf Deutsch und Englisch herausgegeben. Mit dem Praxistool zur Ernährung bieten wir bei der DDG Orientierungshilfe für die Diabetesberatung nach geografischen Räumen.

Wo erhalten Migranten mit Diabetes korrekte Informationen?

Fremdsprachige Informationsmaterialien für Behandler und Patienten sind bei der AG Diabetes und Migranten zu finden. Wir empfehlen auch das Diabetesinformationsportal diabinfo für umfangreiche Informationen in Deutsch, Türkisch und Polnisch für Patienten und ihre Angehörigen.

Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gibt ebenfalls verlässliche

Patienteninformationen zu Diabetes in den Sprachen Arabisch, Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch und Türkisch heraus. Diese gehen auf Therapie, Folge- und Begleiterkrankungen ein.

Sie waren Anfang November als Expertin auf der Diabetes Herbsttagung in Wiesbaden. Welche Erkenntnisse haben Sie mitgenommen?

„Kultursensible Beratung & Therapie von Menschen mit Diabetes“ war ein Schwerpunktthema der diesjährigen Herbsttagung der DDG. Wir haben in diesem Kontext in Symposien und Workshops intensiv über Adipositas, Schwangerschaftsdiabetes und Inhalte in der ärztlichen und nichtärztlichen Weiterbildung diskutiert.

Ein weiteres, wichtiges Thema war die Verdoppelung der diabetischen Ketoazidose-Fälle im Kindesalterwährend der coronabedingten Schließungen von Schulen und Kindergärten. Um diesen vorzubeugen, informieren wir umfassend auf der AGPD Homepage.

Vielen Dank für das Gespräch.