Für die Osmanen lag die Bedeutung Palästinas in seiner historischen Hauptstadt Jerusalem, die nach Mekka und Medina als drittheiligste Stadt des Islam gilt. / Photo: AA Archive (AA Archive)
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von Ayşe Betül Aytekin

Während Israel unerbittlich den Gazastreifen bombardiert, während Tel Aviv die brutale Besatzung der Westbank fortsetzt und noch mehr spaltende Gesetze in Israel erlässt, kann man überall auf der Welt die Frage hören: „Warum ist die Geschichte dieser Region so blutig?“ Vielleicht liegt es an einem allgemeinen Mangel an historischem Wissen oder an einer jahrelangen Meinungskampagne in den westlichen Medien, in der bestimmte Aspekte der Geschichte bewusst ausgeblendet werden.

Aus heutiger Sicht begannen die Probleme für Palästina, als das Osmanische Reich das Gebiet 1918 an den Völkerbund abtreten musste, der es unter britisches Mandat stellte. Wie sich später herausstellte, hatten Briten und Franzosen andere Ambitionen mit dem Gebiet. Bereits 1916 hatten sie im Geheimen das Sykes-Picot-Abkommen unterzeichnet und 1917 öffentlich die Balfour-Deklaration verkündet.

Was danach geschah, ist bekannt. Weniger bekannt ist, was davor war. Nämlich die jahrhundertelange Herrschaft türkischer Dynastien über das Gebiet, beginnend mit den Tuluniden und gefestigt durch die Seldschuken und Mameluken. Vor allem das Osmanische Reich, das 401 Jahre lang ununterbrochen herrschte, schuf eine Zeit des Friedens, des harmonischen Zusammenlebens und der kulturellen Blüte.

Palästina verdankte seine osmanische Bedeutung der historischen Hauptstadt Jerusalem, der drittheiligsten Stadt des Islam nach Mekka und Medina. Für die osmanische Dynastie, die bereits das islamische Kalifat innehatte, war die Verwaltung dieser Länder daher eine heilige Pflicht.

Jerusalem: Zentrum der abrahamitischen Religionen

Und doch haben die Osmanen angesichts der Heiligkeit des Landes für die beiden anderen abrahamitischen Religionen nie versucht, die Harmonie zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen im Heiligen Land zu stören.

Raja Shehadeh, ein in Ramallah ansässiger palästinensischer Anwalt, Autor und Mitbegründer der preisgekrönten palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Haq, bestätigt diese Einschätzung gegenüber TRT World.

Er habe sich deshalb entschlossen, in die Fußstapfen seiner osmanischen Vorfahren zu treten und in die historische Landschaft des osmanischen Palästina einzutauchen. In seinem 1997 erschienenen literarischen Werk „A Rift in Time: Reisen mit meinem osmanischen Onkel“ fängt er die einst so begehrte osmanische Identität ein und bietet dem Leser einen tiefen Einblick in das Leben jener Zeit.

„Das osmanische Palästina ist für das Verständnis der palästinensischen Geschichte und Identität von großer Bedeutung. Es war eine Zeit, in der die drei monotheistischen Religionen ohne Konflikte miteinander koexistierten“, sagt er.

Osmanische Ankunft in Palästina

Unter dem osmanischen Sultan Selim „der Strenge“ kamen im 16. Jahrhundert die Gebiete des heutigen Syrien und Palästina unter die Verwaltung der „Hohen Pforte“. Zuvor hatte die Levante bereits mehrere Unruhen hinter sich.

Vor ihrer Niederlage gegen den legendären ayyubidischen Sultan Saladin im Jahr 1187 waren Kreuzritter aus Europa wiederholt in Palästina eingefallen und hatten große Teile der einheimischen muslimischen und jüdischen Bevölkerung massakriert.

Nach dem Sieg der Osmanen in der Schlacht von Mardsch Dabiq begann schließlich der Wiederaufbau dieser historischen Region. Das in mehrere Verwaltungsprovinzen aufgeteilte Palästina erlebte eine bemerkenswerte 401-jährige Periode der Stabilität, die durch die Einheit und Harmonie seiner multikulturellen Gesellschaft ermöglicht wurde.

Reisen mit dem „osmanischem Onkel“

Raja Shehadehs Großonkel Nadschib Nassar war ein christlicher Palästinenser, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Palästina lebte, kurz bevor das britische Mandat begann. Er lehnte alle anderen Identitäten ab und bestand darauf, sich als „Osmane“ zu definieren.

Mehr als ein Jahrhundert später ermögliche uns Nadschibs Reise, der Besatzung durch unsere Vorstellungskraft zu entfliehen – „in eine bessere, friedlichere Zeit offener Grenzen, die so weit entfernt ist von der einengenden Realität von heute“, erklärt Shehadeh.

Onkel Nadschib war ein hartnäckiger Befürworter der osmanischen Präsenz in seinem Heimatland. Selbst während den Jahren, in denen er die osmanische Verwaltung mied, weil er sich lautstark gegen die Beteiligung des Reiches am Ersten Weltkrieg aussprach. In seinem Engagement für sein „Osmanentum“ ließ er nie nach.

Was motivierte Nadschib zu seiner starken Bindung an die osmanische Identität? Dies zu verstehen, kann Aufschluss darüber geben, warum verschiedene Gemeinschaften im osmanischen Palästina ähnliche Gefühle hatten.

Nach der Schlacht von Marj Dabiq, in der Sultan Selim Jerusalem und die umliegenden palästinensischen Gebiete von den Mamelucken eroberte, setzte in dieser historischen Region ein Wiederaufbauprozess ein. (AA Archive)

Hohe Pforte verhielt sich väterlich

Die Wahrung der Harmonie für die multireligiöse Bevölkerung Palästinas resultierte aus der Entschlossenheit des Osmanischen Reiches, die Kolonisierung der Region durch frühere Herrscher nicht fortzusetzen. Die türkische Präsenz sollte sich natürlich entfalten.

Die türkischen Osmanen hätten natürlich Reformen gebraucht, aber letztendlich sei es ein multiethnischer Staat gewesen, „der nie versucht hat, die Region zu kolonisieren“, betont Shehadeh in „A Rift in Time“ und folgt damit der Meinung seines Onkels.

Die Koexistenz entstand aus dem osmanischen Verwaltungsmechanismus, der als „Millet-System“ bekannt ist und von Mim Kemal Öke, Historiker und Professor für Internationale Beziehungen an der Istanbuler Handelsuniversität, treffend als „Amulett“ für die gesellschaftlichen Harmonie beschrieben wurde.

Der Begriff „Millet“, der allgemein als „Religionsgemeinschaft“ und heute auch als „Volk“ definiert wird, wurde von den Osmanen für nichtmuslimische Religionsgemeinschaften verwendet.

Die Zentralbehörde kategorisierte die Minderheitengruppen nicht nach ihrer ethnischen Herkunft. Vielmehr wurden sie nach ihrer Religionszugehörigkeit organisiert. Durch eine strukturierte Reihe von Verhandlungen mit den Führern dieser Religionsgemeinschaften wurde das Millet-System zu einem erfolgreichen Beispiel nicht-territorialer Autonomie.

Autonomie endet mit britischer Verwaltung

Das Reich regierte verschiedene religiöse Minderheitengruppen unter einer Herrschaft und spielte eine versöhnende Rolle zwischen ihnen, wie Professor Öke gegenüber TRT World erklärt. Dies war ein inhärentes Ergebnis des paternalistischen Regierungsansatzes des Staates, der die Interaktionen zwischen den verschiedenen Gruppen überwachte und koordinierte.

Die Zentralregierung erkannte verschiedene Religionsgemeinschaften und christliche Konfessionen an – so wie die griechisch-orthodoxe, die armenische, die katholische und die protestantische. Sie erhielten die Autonomie, ihre geistlichen Führer zu ernennen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, ihre Sprache beizubehalten, unabhängige Gerichte zu unterhalten und ihre religiösen Überzeugungen auszuüben.

Die Mitglieder dieser Gemeinschaften wurden integriert und fühlten sich wertgeschätzt, da sie häufig hohe Regierungsämter bekleideten und verschiedene wirtschaftliche und berufliche Ziele verfolgen konnten.

Wie auch der Historiker Prof. Beshara Doumani feststellt, genoss das palästinensische Volk bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein hohes Maß an Selbstverwaltung. Nach dem Ende der osmanischen Ära gewährte die Balfour-Deklaration von 1917 den Juden das ausschließliche politische Recht, eine „nationale Heimstätte“ zu errichten. Im Gegensatz dazu wurden den Nichtjuden, die damals 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten, nur bürgerliche und religiöse Rechte zugesichert.

Osmanische Toleranz schafft einzigartiges Mosaik in Palästina

Die historischen Auswirkungen der Selbstverwaltung von Minderheitengemeinschaften im osmanischen Palästina könnten die Art und Weise, wie wir die Geschichte der Region interpretieren, verändern und die Vielfalt gegenüber der Einheit betonen.

Die jahrhundertelange osmanische Herrschaft habe den palästinensischen Gebieten „jedem Dorf, jeder Kleinstadt und auf einer größeren Ebene, jeder Gruppe von Dörfern und ganzen Regionen ihre eigene kulturelle Prägung, ihre eigene Mythologie und ihr eigenes historisches Gedächtnis“ verliehen, so Prof. Doumani.

So wie Nadschib Nassar hielten die Untertanen des Reiches an ihrem kulturellen Erbe fest, was es ihnen offenbar erleichterte, ihre Loyalität gegenüber dem Staat aufrechtzuerhalten.

Shehadeh, Autor von mehr als einem Dutzend Büchern über das palästinensische Erbe, fand bei seinen Recherchen zu Nadschibs Memoiren heraus, dass die christliche Identität auch bei den Zeitgenossen seines Onkels stark ausgeprägt war. „Sie sahen keinen Widerspruch zwischen Christen und Osmanen und fühlten sich in ihren Rechten und ihrer Freiheit, ihre Religion auszuüben, geschützt. Sie hatten auch das Gefühl, als Christen uneingeschränkt am politischen Leben teilnehmen zu können“, sagt er.

Die Inschrift am Jaffa-Tor in Jerusalems Altstadt lautet: "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Abraham ist sein Freund." (Others)

Nationalismus und Politisierung von Glaubensgemeinschaften

Die muslimische Bevölkerung Palästinas hingegen verdankte ihre Loyalität in erster Linie der Zentralverwaltung in Istanbul, da der osmanische Sultan die Rolle des Kalifen, des Oberhauptes der muslimischen Weltgemeinschaft, innehatte. Sie betrachteten sich als Bürger und nicht nur als Untertanen des Reiches, und diese übergreifende osmanische Identität hatte Vorrang vor engeren ethnischen Zugehörigkeiten, so Prof. Öke.

Doch ähnlich wie in der nahöstlichen Region sollten sich auch in anderen Teilen der Welt unter dem Einfluss des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert Veränderungen zeigen. Darauf folgte im 20. Jahrhundert die Entstehung des arabischen Nationalismus in allen osmanischen Gebieten.

Die osmanische Praxis, für jede religiöse Gruppe eigene Gesetze zu erlassen, wird bis heute von den meisten Ländern des Nahen Ostens befolgt, erklärt der in Ramallah lebende Autor Shehadeh.

„Gottesfreund“ Abraham als Symbol der Völkerverständigung

„Aber die Art und das Ausmaß des Zusammenlebens, wie es in der osmanischen Zeit herrschte, ist nicht mehr möglich. Vor allem wegen der Politisierung der Religion, die es damals noch nicht gab“, fügt er hinzu.

Der anhaltende Geist der Harmonie schwingt noch heute in einer Inschrift am Jaffator in der Altstadt von Jerusalem mit. Diese hatte Sultan „Süleyman der Prächtige“ dort anbringen lassen. Sie lautet: „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Abraham ist sein Freund.“ Diese Aussage soll die Gläubigen aller drei abrahamitischen Religionen vereinen, da sie alle Abraham als herausragende Persönlichkeit verehren.

Für Shehadeh bedeutet die Konfrontation mit den historischen Realitäten im heutigen besetzten Palästina daher, „mit Nostalgie und Sehnsucht auf die osmanische Zeit zurückzublicken – als es in der Region noch keine Grenzen zwischen den von den westlichen Imperialisten nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Staaten gab“.

(Übersetzt aus dem englischen Original)

TRT Deutsch