Albaniens Premierminister Rama zu Gast beim türkischen Präsidenten Erdoğan im Januar 2021. (Reuters)
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von Ali Özkök Seit 2015 leitet der Kommunikationswissenschaftler und Außenpolitikexperte Redi Shehu das Medius Communication Institute in Tirana, das zu den bedeutsamsten Think-Tanks des Landes zählt.

Im Gespräch mit TRT Deutsch hat sich Shehu unter anderem zum stockenden Beitrittsprozess Albaniens zur EU und zu den zuletzt wieder stark intensivierten Beziehungen zur Türkei geäußert.

Albanien gehört zu den Ländern, denen schon seit einiger Zeit eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wird, ohne dass sich jedoch etwas Entscheidendes in dieser Richtung getan hätte. Wo sehen Sie die Gründe für diese Verzögerungen, und hat die EU für die Albaner selbst immer noch Priorität?

Um die Gründe für die vielen Verzögerungen im europäischen Integrationsprozess Albaniens zu verstehen, muss man wissen, was Europa ist.

Seit ihrer Gründung steht die EU als politisch-wirtschaftliches Konzept unter dem Druck zweier gegensätzlicher Kräfte, einer politischen, die sie in Richtung Vereinheitlichung drängt, und einer nationalen, die sie in Richtung Grenzen und Spaltung drängt. Eine dieser beiden Kräfte, die sich durchsetzen wird, wird das Europa von morgen bestimmen. Es gibt viele Gründe für die Verschiebung der Aufnahme neuer Mitglieder aus den Balkanländern. Angefangen bei der Migrationspolitik, dem Brexit, der extremen Rechten, den Einwanderern, aber vor allem der Konfrontation mit aufstrebenden Ländern, deren Kultur und Religion sich von der der Mitgliedsstaaten der Union unterscheidet.

All dies hat gezeigt, dass der europäische Körper, in den sich Albanien integrieren möchte, in Wirklichkeit noch nicht in sich selbst integriert ist. Die EU hat sich noch nicht moralisch festgelegt, was das einzige unveränderliche und endgültige Kriterium für die Mitgliedschaft der neuen Staaten sein wird. Vor allem zeigt sie aber jenseits des Idealismus, mit dem die EU geschaffen wurde, dass sie darauf völlig unvorbereitet ist, aus dem kolonialen Narrativ herauszutreten, das wie ein Gespenst über ihrer Politik steht.

Obwohl Albanien und Nordmazedonien alle EU-Anforderungen erfüllt haben, werden immer noch seltsame Ausreden vorgebracht, um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für diese Länder zu verzögern.

Es muss gesagt werden, dass es realistischerweise keine Stabilität des Denkens und Handelns in der EU geben wird, solange es eine ideologische Mauer zwischen der europäischen Politik und der Politik der Länder gibt, die eine andere kulturelle Identität verkörpern. Eine Mauer, die die Mauer von Berlin zu ersetzen droht, zeigt sich jetzt schon auf dem Balkan. Dennoch hat die EU-Mitgliedschaft für die Albaner weiterhin hohe Priorität – obwohl in den letzten Jahren laut Umfragen die Wartemüdigkeit zu einem gewissen Rückgang dieser Priorität geführt hat.

In den letzten Jahren hat sich die Türkei in Albanien in Bereichen wie Investitionen, Bildung, Kunst und Kultur sowie Erdbebenhilfe stark engagiert. Wie wird dieses Engagement im Land wahrgenommen und wie eng sind die türkisch-albanischen Beziehungen nach all den unfreiwilligen Unterbrechungen des 20. Jahrhunderts?

Ja, es stimmt, dass die Beziehungen zwischen der Türkei und Albanien seit 2013 unter der Regierung von Ministerpräsident Edi Rama einen deutlichen Aufschwung erfahren haben, bis hin zum Abkommen vom 6. Januar 2021, in dem der Strategische Kooperationsrat auf hoher Ebene zwischen den beiden Ländern unterzeichnet wurde. Schon in der Zeit von Mustafa Kemal Atatürk wurde zwischen den beiden Ländern ein Vertrag über ewige Freundschaft unterzeichnet, der auch während des kommunistischen Regimes in Albanien Bestand hatte.

Diese Beziehung wurde auch unter den Premierministern Demirel, Turgut Ozal, Tansu Çiller, Ecevit und Erbakan fortgesetzt. Unter der Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan hat sich diese Beziehung in einem Niveau türkischer Investitionen in Albanien in Höhe von 3,5 Milliarden US-Dollar, 600 Unternehmen und 15.000 Beschäftigten konkretisiert. Darüber hinaus spendete die Türkei 520 Wohnungen für die Erdbebenopfer, ein regionales Krankenhaus in der Stadt Fier und eine Million Impfstoffe zum Einsatz gegen die Covid-Pandemie.

All diese Beziehungen, die als Ausdruck der „Brüderlichkeit“ wahrgenommen werden, haben die Sympathie der albanischen Bevölkerung für die türkische Regierung sowie für das türkische Volk und die türkische Kultur an sich erhöht. Umfragen westlicher Nichtregierungsorganisationen in Albanien haben ergeben, dass die Wertschätzung für die Türkei stärker gestiegen ist als die Wertschätzung für die USA und die EU.

Albanien und die Türkei sind auch NATO-Partner. Hat diese Nähe zusätzliche Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern im Sicherheitsbereich? Welche Entwicklungen erwarten Sie in dieser Hinsicht in den kommenden Jahren?

Das NATO-Bündnis zwischen Albanien und der Türkei stellt einen Mehrwert in den Beziehungen beider Länder dar. Die Türkei hat die albanische Armee und Polizei beständig mit der notwendigen Militärlogistik versorgt und wirkte führend bei der Ausbildung und Durchführung vieler internationaler Operationen albanischer Truppen in Krisengebieten der Welt mit. Alles geschah außerhalb des NATO-Rahmens und trug zum Aufbau der albanischen Sicherheitskapazität bei. Das Gleiche gilt für die Polizei.

So gesehen wird die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern auch in Zukunft intensiv sein, um Albanien zu stärken und seine Kapazitäten auszubauen, damit es zu einem Stabilitätsfaktor auf einem zunehmend unberechenbaren Balkan wird.

Angesichts der sich abzeichnenden Annäherung zwischen der Türkei, Israel, Ägypten und den arabischen Golfmonarchien könnte die stärkere Einbindung Albaniens in diesen neuen Prozess eine Alternative zum EU-Beitrittsprozess darstellen, der sich weiterhin verzögert.

Im Moment befindet sich Albanien in einer Situation, in der es selbst in der Europäischen Union nicht möglich zu sein scheint, Mitglied zu werden, aber auch ein klar kristallisierter Organismus erscheint nicht am Horizont. Die europäische Integration scheint für die Albaner immer noch oberste Priorität zu haben, was aber nicht bedeutet, dass Albanien in naher Zukunft, wenn die EU der Erweiterung überdrüssig ist und keine neuen Mitglieder aufnehmen will, nicht nach anderen Alternativen suchen sollte, die Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit bieten.

Die Situation in Bosnien und Herzegowina spitzt sich angesichts der bosnisch-serbischen Alleingänge zu. Erwarten Sie eine Eskalation und besteht nun auch die Gefahr eines Wiederaufflammens des Kosovo-Konflikts?

Der Balkan und insbesondere die Albaner sind das Produkt einer unnatürlichen und aufgezwungenen geopolitischen Gleichung des letzten Jahrhunderts. Aus diesem Grund hat die Art und Weise, wie diese Region konfiguriert ist, insbesondere die Art und Weise, wie der muslimische Faktor zersplittert ist und ethnische Grenzen als Staatsgrenzen missachtet werden, diese Region zu einem ständigen potenziellen Erzeuger von Konflikten gemacht.

Die Existenz dieser Konflikte wurde nur durch Organisationen wie die EU und die NATO in einem Zustand des „deep freezing“ gehalten, indem ein scheinbarer Status quo geschaffen wurde. Eine eventuelle Erschütterung dieser Organisationen, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt auch immer, bietet ein Potenzial für das Wiederaufflammen alter Konflikte auf dem Balkan, solange die ethnische Gleichung in dieser Region mit all ihren Bestandteilen etabliert ist.

Was das Kosovo betrifft, so halte ich den Ausbruch eines Konflikts für weniger wahrscheinlich, weil die internationale Gemeinschaft und insbesondere die USA und die Türkei direkt in die Sicherheit des Kosovo investiert haben. Vergessen wir nicht, dass Präsident Erdoğan bei seinem Besuch im Kosovo vor einigen Jahren erklärte: „Das Kosovo ist die Türkei und die Türkei ist das Kosovo“, womit er eine klare Linie in Bezug auf die Unverletzlichkeit des Kosovo zog.

Die USA haben vor kurzem einen Stützpunkt der Special Forces in Albanien eingerichtet. Über den Auftrag und die Bedeutung dieser Standortentscheidung ist viel spekuliert worden. Was können Sie uns über diesen Stützpunkt und seine Bedeutung sagen?

Meiner Meinung nach bestätigt die Eröffnung eines US-Spezialkräfte-Stützpunktes in Albanien die Tatsache, dass die USA auf dem Balkan keinen stärkeren Verbündeten haben als Albanien.

Albanien ist zwar Mitglied der NATO, verfügt aber derzeit weder über eine Luftverteidigung noch über eine Flugzeugflotte. Seine Luftpatrouillen werden von anderen NATO-Mitgliedern wie Griechenland und Italien durchgeführt. Die Eröffnung eines solchen Stützpunktes mit einem Militärflughafen im Inneren würde die Luftverteidigung in die Hände der USA legen.

Der Militärstützpunkt Kuçova in der Stadt Berat war ein alter kommunistischer Stützpunkt, der nun von den Amerikanern wieder aufgebaut werden soll. Dies impliziert einen verstärkten amerikanischen militärischen Einfluss in Albanien als Gegengewicht zum verstärkten russischen Einfluss in Serbien. All dies beeinträchtigt meines Erachtens nicht das türkisch-amerikanische Bündnis auf dem Balkan, sondern stärkt vielmehr dessen Position in der Region.

Mehr dazu: Albanien: Zeremonieller Empfang für Präsident Erdoğan

TRT Deutsch