Das britische Magazin „The Economist“ hat in seiner letzten Ausgabe vom 19. August die schwächelnde deutsche Wirtschaft thematisiert und in einer auffälligen Schlagzeile die Frage aufgeworfen, ob Deutschland erneut, wie vor 24 Jahren, als der „kranke Mann Europas” bezeichnet werden sollte. Auf dem aktuellen Titelblatt ist ein grünes Ampelmännchen zu sehen, das symbolisch angeschlagen wirkt. Diese Darstellung könnte gleichzeitig auf die Ampelkoalition in Berlin hinweisen. Tatsächlich deuten verschiedene wirtschaftliche Indikatoren darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft, oft als „europäische Lokomotive“ bezeichnet, aufgrund der Auswirkungen der Pandemie, der Energiekrise, der Probleme in den Lieferketten, der unsicheren globalen Märkte, der zögerlichen Konsumausgaben, der plötzlichen Zinsänderungen und der hohen Inflation im Jahr 2023 ins Stocken gerät. Zusätzlich dazu prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) für dieses Jahr eine Schrumpfung der deutschen Wirtschaft um 0,3 Prozent.
Zustand der deutschen Wirtschaft
Prof. Dr. Kemal Orak, ein Experte für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Internationales Management und Entrepreneurship an der FOM-Hochschule für Ökonomie und Management, beschreibt den aktuellen Zustand des industriellen Mittelstands in Deutschland anhand von zwei BDI-Umfragen aus September 2022 und Juni 2023. Er stellt fest: „Mehr als 90 % der deutschen Unternehmen sehen in den gestiegenen Preisen für Energie und Rohstoffe eine starke (58 %) und existenzielle Herausforderung (34 %). Zudem sind Lieferschwierigkeiten und -verzögerungen für rund drei Viertel der Unternehmen eine starke (71 %) oder existenzielle (6 %) Herausforderung. Die Preisentwicklung zwingt rund 40 % der Unternehmen, Investitionen in die ökologische und digitale Transformation zurückzustellen.“
Darüber hinaus planen 28 % der Unternehmen mittelfristig, auf alternative Brennstoffe umzusteigen, um ihre Abhängigkeit von Gas zu reduzieren. Allerdings seien 37 % der Unternehmen derzeit nicht in der Lage, diesen Wechsel vorzunehmen, so der Experte. Orak betont, dass fast jedes zehnte Unternehmen in Deutschland derzeit die Produktion gedrosselt oder unterbrochen habe und fast jedes vierte Unternehmen darüber nachdenke oder bereits dabei sei, Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Diese Ergebnisse würden durch die Kernergebnisse einer aktuellen BDI-Umfrage aus Juni 2023 bestätigt, so Orak.
Deutsche Wirtschaft im Wandel: Herausforderungen und Chancen
Orak zitiert aus dem BDI-Papier, dass die drei größten unternehmerischen Herausforderungen in Deutschland „Arbeitskosten und Fachkräftemangel (76%)“, „Preise für Energie und Rohstoffe (62%)“ und „Bürokratie inkl. aufwändiger Genehmigungsverfahren (37%)“ seien. Angesichts dieser Zahlen stellt sich für den Wirtschaftsexperten die kritische Frage: „Hat eine Deindustrialisierung Deutschlands bereits begonnen und nimmt sie an Fahrt auf?“ Er betont, dass diese brisante Frage nicht in wenigen Sätzen ausreichend beantwortet werden könne. Deutschland verfügt über etwa 3,2 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen sowie etwa 20.800 große Unternehmen in den Bereichen Produktion, Handel und Dienstleistungen.
Der Wirtschaftsexperte betont, dass es dringend notwendig sei, Unternehmen in der Krise zu unterstützen und die Standortqualität in Deutschland zu stärken. Dies könne durch die „Begrenzung der Energiekosten, den spürbaren Abbau der Bürokratie und Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel“ erreicht werden. Angesichts von Umfragen, die zeigen, dass fast jedes vierte Unternehmen darüber nachdenkt oder bereits dabei ist, Unternehmensanteile oder Teile der Produktion und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, unterstreicht Orak die Bedeutung wirtschaftspolitischer Reformen und unternehmensstrategischer Entscheidungen. Er glaubt, dass bei erfolgreicher Umsetzung dieser Maßnahmen ein Strukturwandel, eine Transformation und möglicherweise sogar eine Reindustrialisierung in Deutschland möglich sind.
Experten und Unternehmer äußern Sorgen und Optimismus
Der Volkswirt und Unternehmer Doğan Gündoğdu äußert aufgrund der anhaltenden Rezessionsphase in Deutschland erhebliche Bedenken. Er warnt vor einem „möglichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, einem weiteren Rückgang der notwendigen Investitionen“ und der Zurückhaltung der Bevölkerung beim Konsum, die die wirtschaftliche Situation zusätzlich belasten könnten. Trotz dieser Bedenken zeigt er sich optimistisch für die kommenden Jahre und erwartet sogar eine Erholung der Wirtschaft.
Adnan Öztürk, der Geschäftsführer des seit 1986 erscheinenden Nachrichten- und Anzeigenblattes „Öztürk“, kämpft betriebswirtschaftlich mit den drastisch gestiegenen Energiepreisen und der Inflation. In einer Branche, in der Printmedien immer seltener werden, sieht er sich zudem mit erheblichen Anstiegen der Rohstoffpreise für Papier konfrontiert. Öztürk betont, dass es zwischen den Papierpreisen im Mai 2021 und Mai 2023 einen Anstieg um 60,83 % gegeben habe, was zu „schwierigen Zeiten für den gesamten Pressesektor“ führe.
Tuğrul Alp Öztürk, ein Finanzberater und Immobilienmakler aus Bielefeld, hebt die derzeitige angespannte Lage in der Baufinanzierung in Deutschland hervor und weist darauf hin, dass die Branche „turbulente 18 Monate hinter sich“ habe. Er betont, dass es innerhalb eines Jahres einen dramatischen Anstieg der Zinsen von etwa 0,90 % auf 4,80 % gegeben habe, was erhebliche Auswirkungen auf die Endverbraucher gehabt habe. Die finanzielle Belastung der Kunden sei deutlich gestiegen, was sich auf deren Budgets und finanzielle Stabilität auswirke, so der 35-jährige. Auch Öztürk selbst spürt die Auswirkungen des Marktes. „In den Jahren vor der Zinswende konnte ich monatlich mehr als zehn Kunden unterstützen. Aufgrund der aktuellen Nachteile reduzierte sich die Zahl meiner Kunden erheblich auf nur noch zwei bis drei Personen im Monat“, so der Finanzberater.
Die globalen Veränderungen haben in Deutschland, das stark von Rohstoffen abhängig ist, erhebliche Auswirkungen. Das deutsche Wirtschaftsmodell, das auf Export, einen international ausgerichteten Mittelstand und global vernetzte Industrien setzt, gerät besonders unter Druck. Die steigende Inflation, die Energiekrise und die höheren Zinsen belasten auch die Binnenwirtschaft. Es wird eine nationale Anstrengung erfordern, um aus dieser wirtschaftlichen Herausforderung herauszukommen. Dennoch sind sich Experten einig, dass die größte Volkswirtschaft Europas auch diese schwierigen Zeiten überstehen wird.