Feride Tavus
Die deutsche Wirtschaft befindet sich seit nunmehr fünf Jahren in einer Stagnation. Timo Wollmershäuser vom ifo Institut bestätigte dies im Interview mit TRT Deutsch. „Im Jahr 2024 dürfte das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt gerade so hoch sein wie im Jahr 2019“, sagte der Konjunkturexperte. Damit würde Deutschland die „längste Stagnationsphase der Nachkriegsgeschichte durchlaufen“. Während andere Länder im gleichen Zeitraum zum Teil deutlich gewachsen seien, sei Deutschland im internationalen Vergleich erheblich zurückgefallen, so Wollmershäuser.
Herausforderungen für die deutsche Industrie
Die deutschen Unternehmen stehen laut Wollmershäuser vor enormen Herausforderungen, die sich aus der Kombination von Digitalisierung, Dekarbonisierung, demografischem Wandel und Deglobalisierung ergeben. Diese Faktoren erforderten „einen Umbau der Produktionsstrukturen, bei dem etablierte Geschäftsmodelle verschwinden und neue Produktionskapazitäten“ geschaffen werden müssen, sagte der Experte. Die Krisen der vergangenen Jahre hätten diesen Prozess verstärkt. Besonders betroffen sei Deutschland, da das verarbeitende Gewerbe hier einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der Wirtschaftsleistung habe.
Deutschland sei von den aktuellen Veränderungen im internationalen Vergleich besonders stark betroffen, erklärte Wollmershäuser. Zudem entwickle sich das Erwerbspersonenpotenzial ungünstiger und die Bevölkerung altere schneller. Auch das „Verarbeitende Gewerbe, das in Deutschland einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat“, sei besonders stark vom Strukturwandel betroffen.
Der Strukturwandel könne sich nicht nur auf die Produktionsstrukturen, sondern auch auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auswirken, so Wollmershäuser. Während sich die Volkswirtschaften weltweit allmählich erholten und die Nachfrage anziehe, profitiere die exportorientierte deutsche Industrie nur wenig davon. Vielmehr könnten sich die deutschen Warenexporte zunehmend von der weltwirtschaftlichen Entwicklung abkoppeln, wobei strukturelle Ursachen immer mehr in den Vordergrund träten.
Nach Ansicht des Konjunkturexperten leiden deutsche Unternehmen zunehmend unter „steigenden Steuerbelastungen, Bürokratie und international hohen Energiekosten“. Zudem komme der Ausbau wichtiger Digital-, Energie- und Verkehrsinfrastrukturen nur langsam voran. Besonders problematisch sei der Fachkräftemangel, der in Deutschland stärker ausgeprägt sei als in anderen Ländern.
China als wachsender Konkurrent
Ein besonders gravierender Aspekt des Strukturwandels sei die zunehmende Konkurrenz aus China. China habe sich von der verlängerten Werkbank der Welt zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten entwickelt, sagte Wollmershäuser. Dies betreffe vor allem den Fahrzeug- und Maschinenbau. Gerade bei Produkten, bei denen deutsche Unternehmen jahrzehntelang als Weltmarktführer galten, drohe es, Marktanteile zu verlieren.
Ungewisse Aussichten und politischer Handlungsbedarf
Der Ausblick auf die kommenden Jahre bleibe von großer Unsicherheit geprägt, sagte Wollmershäuser weiter. Es sei schwer abzuschätzen, ob der derzeitige konjunkturelle Abschwung nur vorübergehend sei oder zu einer dauerhaften Umstrukturierung der Produktionskapazitäten führe. Im besten Fall werde dieser Wandel „nicht nur alte Technologien ersetzen, sondern auch neue, wettbewerbsfähige Produktionsmethoden im verarbeitenden Gewerbe hervorbringen“, so der Ifo-Experte.
Voraussetzung dafür seien allerdings „wirtschaftspolitische Weichenstellungen“, betonte Wollmershäuser. Dazu gehöre unter anderem eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast für Unternehmen, der Abbau von Bürokratie sowie ein schnellerer Ausbau der digitalen Infrastruktur. Zudem müsse das Arbeitskräfteangebot durch eine stärkere Integration von älteren Arbeitnehmern und Frauen erhöht werden. Auch die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland müsse erleichtert werden.
Deindustrialisierung als Risiko
Im ungünstigsten Fall habe der Strukturwandel bereits sichtbare Spuren im Produktionspotenzial hinterlassen, so Wollmershäuser. In diesem Szenario könnte sich eine „schleichende Deindustrialisierung“ fortsetzen. Industrieunternehmen würden Produktion und Investitionen zunehmend ins Ausland verlagern. Gleichzeitig könnte das „Produktivitätswachstum schwach bleiben“. Es käme zu einer Verdrängung hochproduktiver Industrieproduktion durch weniger produktive Wertschöpfung im Dienstleistungssektor. Damit wäre ein Anstieg der Arbeitslosigkeit wahrscheinlich, so der ifo-Experte. Dies liege daran, dass die freigesetzten Arbeitskräfte aus der Industrie nicht direkt in den Dienstleistungssektoren eingesetzt werden könnten, so Wollmershäuser gegenüber TRT-Deutsch.