von Kaan Elbir
Trotz einer Waffenruhe dauern die Kämpfe in den von Armenien besetzten aserbaidschanischen Gebieten in und um Berg-Karabach. Zuletzt konnte Aserbaidschan mehrere Ortschaften wieder einnehmen.
TRT Deutsch hat mit Ramin Hasanov, dem Botschafter der Republik Aserbaidschan, gesprochen.
Was sind die Gründe für die jüngste Eskalation im besetzten Berg-Karabach und den umliegenden Regionen Aserbaidschans?
Am 27. September 2020 haben die Streitkräfte der Republik Armenien, die die Waffenstillstandsvereinbarung eklatant verletzt haben, eine weitere militärische Aggression gegen die Republik Aserbaidschan eingeleitet, indem sie die Stellungen der aserbaidschanischen Streitkräfte entlang der Frontlinie intensiv angegriffen haben. Die armenischen Streitkräfte beschossen das Dorf Qapanli in der Region Terter sowie die Dörfer Chiragli und Orta Garvend in der Landregion Aghdam. Ebenso wurden Alkhanli und Schukurbeyli im Landkreis Fizuli und Jojug Marjanli in Dschabrayil mit großkalibrigen Waffen, Mörsern und Artillerie angegriffen.
Infolgedessen gab es Opfer unter der Zivilbevölkerung und den Militärangehörigen Aserbaidschans. Viele Häuser und andere zivile Infrastrukturen wurden zerstört oder erheblich beschädigt.
Um eine weitere militärische Aggression Armeniens abzuwehren und die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten, haben die Streitkräfte der Republik Aserbaidschan eine Gegenoffensive im Rahmen des Rechts auf Selbstverteidigung ergriffen. Im Artikel 51 der UN-Charta wird dieses Recht jedem Staat gewährt. Aserbaidschan führt alle Gegenangriffsmaßnahmen in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch.
Wie ist der Kontext dieser Angriffe zu verstehen?
Dieser Akt der Aggression Armeniens gegen Aserbaidschan ist die Fortsetzung vorheriger Provokationen der armenischen Seite, einschließlich ihres bewaffneten Angriffs vom 12. bis 16. Juli 2020 auf die Region Tovuz.
Am 5. August 2019 behauptete der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan: „Berg-Karabach ist Armenien. Punkt“ Am 30. März 2019 kündigte der armenische Verteidigungsminister Davit Tonoyan bei einem Treffen mit der armenischen Gemeinde in New York eine Strategie des „neuen Krieges für neue Gebiete“ an. Zudem verstärkt Armenien seit diesem Jahr seine illegale Siedlungspolitik durch die Ansiedlung von Armeniern aus Syrien und Libanon in den besetzten Gebieten Aserbaidschans. Das illegale Regime, das sich in den besetzten Gebieten der Republik Aserbaidschan niedergelassen hat, kündigte seine Absicht an, „wichtige Verwaltungsbüros“ in die besetzte Stadt Schuscha zu verlegen, die für die Aserbaidschaner aus historischer, kultureller und ethischer Sicht eine entscheidende Bedeutung innehat.
Die Liste solcher Provokationen seitens Armenien könnte man ruhig verlängern. Damit hat die armenische Führung immer wieder gezeigt, dass sie an einer friedlichen Lösung nicht interessiert ist. Mit agressiver Rhetorik und militärischen Provokationen hat sie versucht, von der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Armenien abzulenken. Im Endeffekt hat dieses Verhalten zu heutigen Spannungen in der Region geführt.
Wieso kommt es trotz Waffenruhe zu militärischen Eskalationen?
In Form einer eklatanten Missachtung des vereinbarten humanitären Waffenstillstands am 10. Oktober 2020 um 12.00 Uhr haben die Streitkräfte Armeniens ihre Angriffe auf nichtmilitärische zivile Ziele in Aserbaidschan fortgesetzt.
Am 11. Oktober wurde eine ballistische Rakete vom Territorium Armeniens, Region Vardenis, auf ein Wohnhaus im zentralen Stadtteil von Gandscha abgefeuert, der zweitgrößten Stadt Aserbaidschans. Die Rakete, die das Wohnhaus traf, zerstörte es vollständig, und seine Bewohner blieben unter Trümmern. Infolge dieses Angriffs wurden 10 Zivilisten, darunter 4 Frauen, getötet. 34 weitere, darunter 16 Frauen und 6 Minderjährige, wurden schwer verletzt. Darüber hinaus wurden mehr als 10 Wohnhäuser und mehr als 100 verschiedene Einrichtungen stark beschädigt. Das ist ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Um für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sorgen und die Zivilisten vor diesen feigen Angriffen der Streitkräfte Armeniens zu schützen, musste unsere Armee reagieren und die Besatzungstruppen zurückschlagen.
Worum geht es in der Berg-Karabach-Frage und welche Rolle spielt Armenien?
Die Gebietsansprüche Armeniens gegenüber Aserbaidschan stehen im Mittelpunkt dieses Konflikts. Der armenisch-aserbaidschanische Berg-Karabach-Konflikt brach 1988 aus, als die damalige Sowjetrepublik Armenien begann, Gebietsansprüche gegen Aserbaidschan zu erheben. Am 20. Februar 1988 appellierten einige armenische Mitglieder des Stellvertretenden Volksrats des Autonomen Gebiets Berg-Karabach an die Obersten Räte der Sowjetunion, Aserbaidschan und Armenien das Autonome Gebiet Berg-Karabach abzutreten und es an Armenien zu übergeben. Gleichzeitig fingen die illegalen armenischen bewaffneten Gruppierungen in Berg-Karabach an, die aserbaidschanische Bevölkerung des Gebiets zu vertreiben und zu terrorisieren.
Nach der Verfassung der Sowjetunion war Berg-Karabach ein autonomes Gebiet innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan. Entscheidend ist: Das Gebiet einer Sowjetrepublik konnte ohne eigene Zustimmung nicht verändert oder abgetreten werden. Dementsprechend lehnte der Oberste Rat der UdSSR im Juni 1988 Forderungen nach einer Übergabe Berg-Karabachs an Armenien ab und bezeichnete sie als illegal.
Armenien akzeptierte aber diese Beschlusslage nicht und versuchte, seine Gebietsansprüche militärisch zu erfüllen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR kam es zu einem offenen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, infolgedessen Armenien die aserbaidschanischen Gebiete – Berg-Karabach und sieben weitere Bezirke um Berg-Karabach, insgesamt ein Fünftel des Staatsgebiets Aserbaidschans – militärisch besetzte und hunderttausende Aserbaidschaner aus den Gebieten vertrieb.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sicherte die Völkerrechtsdoktrin „uti possidetis juris“, ein völkergewohnheitsrechtlicher Grundsatz, die internationale Legitimität für die Grenzen der neuen unabhängigen Staaten im postsowjetischen Raum. Nach dieser Rechtsdoktrin wurden die ehemaligen Verwaltungsgrenzen der aserbaidschanischen Sowjetrepublik, die auch das Autonome Gebiet Berg-Karabach einschlossen, völkerrechtlich als die legitimen Grenzen der neuen unabhängigen Republik Aserbaidschan anerkannt. Dies wurde später in den Resolutionen 822, 853, 874 und 884 des UN-Sicherheitsrates bekräftigt, die die militärische Besetzung der aserbaidschanischen Gebiete verurteilten und den sofortigen Rückzug der Besatzungstruppen aus diesen Gebieten forderten.
Armenien versucht, seine Besetzung der souveränen Gebiete der Republik Aserbaidschan durch die Errichtung eines Marionettenregimes in Berg-Karabach zu tarnen. Das Ziel, das Armenien verfolgt, besteht darin, die internationale Gemeinschaft über den eigentlichen Inhalt des Konflikts in die Irre zu führen. Aber es ist kein Geheimnis, dass Armenien das Territorium von Aserbaidschan militärisch besetzt hat. Und dieses Land hält die Besetzung bis heute aufrecht.
Welche Auswirkungen hat die Okkupation auf die Stabilität in der Region?
Die illegale Präsenz der Streitkräfte Armeniens in dem besetzten Berg-Karabach und den umliegenden Gebieten Aserbaidschans stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit in der Region dar. Armenien hat etwa 20 Prozent des international anerkannten Territoriums von Aserbaidschan besetzt und in diesen Gebieten ethnische Säuberungen durchgeführt. Infolge der Politik der militärischen Aggression wurden eine Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben und können nicht in ihre Heimat zurückkehren. Wenn Armenien nicht die einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates umsetzt und seine Streitkräfte aus den besetzten Gebieten Aserbaidschans abzieht, wird es keinen Frieden und keine Stabilität in der Region geben.
Russland ist ein Vermittler in dem Konflikt, aber auch der wichtigste Partner Armeniens. Wie beurteilen Sie die Verantwortung Russlands?
Russland ist einer der drei Co-Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE, die die Friedensgespräche vermitteln. Es hat bisher in dieser Rolle großes Engagement gezeigt und viele Gespräche zwischen beiden Konfliktparteien organisiert. Das schätzen wir hoch.
Gleichzeitig hat Russland ein formelles Militärbündnis mit Armenien. Russland und Armenien sind Mitglieder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO). Russland hält Militärbasen in Armenien und sichert seine Grenzen mit der Türkei und dem Iran. Das ist auch kein Geheimnis, dass Armenien von Russland vollständig abhängig ist und Russland Waffen an Armenien umsonst liefert. Wir denken, dass Russland auf die Lösung des Konflikts eigentlich eine größere Wirkmacht haben könnte, indem es Armenien überzeugt, die völkerrechtswidrige Besetzung der aserbaidschanischen Territorien aufzugeben.
Obwohl Armenien sich sehr bemüht, Russland in diesen Konflikt hineinzuziehen, bleibt Russland während der laufenden militärischen Operationen zumindest öffentlich zurückhaltend. Die armenischen Streitkräfte starten vom Hoheitsgebiet Armeniens Raketenangriffe auf große Städte Aserbaidschans, die 60 bis 80 Kilometer von der Konfliktzone entfernt liegen. So wollen sie den Schauplatz der Militäroperationen ausweiten und Aserbaidschan mit der Zerstörung dieser Raketenwerfer zur Reaktion provozieren. Damit bezwecken sie die Durchsetzung einer militärischen Unterstützung durch die CSTO. Armenien möchte, dass Russland in diese Situation hineingezogen wird.
Was erwarten Sie von den Vermittlern in diesem Konflikt?
Die vermittelnden Staaten sollten das Mandat der Minsker Gruppe rechtfertigen. Das Mandat der Minsk-Gruppe besteht darin, die Lösung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts im Einklang mit den einschlägigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu erzielen. Die Vermittler sollten sich nicht darauf beschränken, neutrale Erklärungen abzugeben, in denen lediglich beide Seiten zur Waffenruhe aufgefordert werden, ohne auf das Wesen des Konflikts hinzuweisen. Im Gegenteil, um Fortschritte im Prozess der friedlichen Beilegung des Konflikts zu erzielen, sollten sie konkrete Aufforderungen an den Aggressorstaat Armenien richten, die Besetzung des aserbaidschanischen Territoriums zu beenden und seine Streitkräfte aus diesen Gebieten abzuziehen.
Wie glaubwürdig ist die Minsker Gruppe der OSZE?
Die OSZE-Minsk-Gruppe wurde 1992 eingerichtet. Seit 1994 bestand ein Waffenstillstandsregime. Aserbaidschan und Armenien befanden sich seitdem in Verhandlungen. Leider gilt jedoch, dass 26 Jahre Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der Minsker Gruppe zu keinem Ergebnis geführt haben. Der erste Grund dafür ist die destruktive Haltung Armeniens. Dieses Land will nicht die Forderungen der Resolutionen des UN-Sicherheitsrates umsetzen und seine Truppen aus den besetzten Gebieten Aserbaidschans zurückziehen. Tatsächlich will Armenien keine friedliche Lösung des Konflikts, sondern es will nur den Status quo erhalten und seine Besatzung konsolidieren.
Der zweite Grund ist der fehlende Druck der Co-Vorsitzenden der Minsker Gruppe auf Armenien. Die Co-Vorsitzenden sollten von Armenien fordern, die Normen des Völkerrechts einzuhalten und die Besetzung des aserbaidschanischen Territoriums zu beenden. Leider haben wir keine prinzipientreue Position der Co-Vorsitzenden gegen die aggressive Politik Armeniens erlebt. Unsere Erwartungen bestehen darin, dass die Co-Vorsitzenden zwischen dem Besatzer und dem Opfer unterscheiden.
Bundesaußenminister Maas hat zum Waffenstillstand aufgerufen. Wie bewerten Sie die Position Deutschlands im Konflikt?
Deutschland unterstützt die territoriale Integrität der Republik Aserbaidschan. Die Bundesregierung betrachtet die Region Berg-Karabach als integralen Bestandteil Aserbaidschans.
Wie die Geschichte der Friedensverhandlungen gezeigt hat, tragen neutrale Aussagen zum Konflikt allerdings nicht zur Beilegung des Konflikts bei. Derartige neutrale Erklärungen und Aufrufe zu Verhandlungen üben nicht den notwendigen Druck auf Armenien aus, um dieses Land dazu zu zwingen, seine Besetzung zu beenden und seine Truppen aus den Gebieten Aserbaidschans abzuziehen. Darüber hinaus unterscheiden diese Erklärungen, wie schon erwähnt, nicht zwischen dem Aggressorstaat und dem Staat, dessen Territorien besetzt wurden.
Daher erwarten wir, dass Deutschland als Mitglied der Minsk-Gruppe eine noch aktivere Rolle übernimmt. Gezielte und differenzierte Aufrufe an die Konfliktparteien könnten effektiver sein und die Befriedung des Konflikts bewirken.
Die Türkei gilt als wichtigster Partner Aserbaidschans. Wie ist die Zusammenarbeit der beiden Länder auf dem Gebiet der Sicherheit?
Das Motto „eine Nation, zwei Staaten“ beschreibt am besten unsere Beziehungen in allen Bereichen. Es gibt keine anderen Länder auf der Welt, die so enge Beziehungen zueinander haben. Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und der Türkei sind ein stabilisierender Faktor in unserer Region. Unsere Länder führen gemeinsam entscheidende Projekte in den Bereichen Energie, Verkehr und Wirtschaft durch. Diese Bestrebungen bringen den daran beteiligten Ländern Wohlstand.
Wir schätzen natürlich die Position der Türkei in der Frage des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts sehr hoch. Mit dieser Position steht die Türkei auf der Seite der Gerechtigkeit und unterstützt die Normen des Völkerrechts. Als die letzte Eskalation ausbrach, war die Türkei das erste Land, das Aserbaidschan seine unmissverständliche und entschlossene Unterstützung zusicherte. Diese Position der Türkei diente auch als Warnung für andere Länder, dass Aserbaidschan nicht alleine ist. Wir unterstützen gegenseitig unsere Positionen in allen internationalen Foren. Aber ich muss auch betonen: Obwohl zwischen der Türkei und Aserbaidschan in fast jeder Hinsicht enge Beziehungen bestehen, ist die Türkei jedoch keine Partei in diesem Konflikt und nimmt an den Kampfhandlungen nicht teil.
Wie würden Sie die Rolle der Energiekomponenten im Zusammenhang mit dem Konflikt bewerten?
Die Projekte, die den Transport der Öl- und Gasressourcen des Kaspischen Meeres nach Europa ermöglichen, wurden von Aserbaidschan initiiert und durchgeführt. Die wichtigste Ölexport-Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan und der südliche Gaskorridor leisten einen bedeutenden Beitrag zur Energiesicherheit Europas. Eines der Ziele der militärischen Aggression Armeniens entlang der Staatsgrenze in der Region Tovuz zwischen dem 12. und 16. Juli 2020 war es eben der Versuch, die wichtigsten Energieexport-Routen nach Europa zu zerstören. Aber der Widerstand unserer Streitkräfte hat diese Absicht zunichte gemacht. Während Armenien einmal mehr gezeigt hat, dass es das größte Hindernis für Frieden und Stabilität in der Region ist, setzt Aserbaidschan mit seinen überregionalen Projekten seine Beiträge zum Wohlstand der Bevölkerung der teilnehmenden Länder fort. Aserbaidschan wird auch in der Zukunft ein verlässlicher und strategischer Partner in dieser Region bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch!