Kamala Harris hat Geschichte geschrieben. Mit der 56-jährigen Senatorin bekommen die USA, wenn der Ausgang der Präsidentschaftswahl formal bestätigt wird, erstmals in ihrer Geschichte eine Vizepräsidentin – und erstmals eine Afroamerikanerin als Nummer zwei im Staat. An der Seite von Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat die charismatische Politikerin die Wahl gegen den Rechtspopulisten Donald Trump gewonnen. Nicht wenige sehen in der Vizepräsidentschaft nur einen Karriere-Zwischenschritt: In vier Jahren könnte Harris selbst das höchste Staatsamt anstreben.
Die Tochter eines aus Jamaika eingewanderten Vaters und einer aus Indien eingewanderten Mutter verkörpert den Traum vieler Menschen in den USA – und die Hoffnungen vieler Minderheiten. Die 1964 im kalifornischen Oakland geborene Kamala – der Name bedeutet in Indien „Lotus“ – schilderte im September beim Parteitag der Demokraten, wie ihre Mutter sie und ihre Schwester erzog, „stolze, starke schwarze Frauen zu werden“.
In ihrem Leben durchbrach sie eine Reihe von Barrieren. Nach Jahren als Staatsanwältin in San Francisco wurde sie 2011 als erste Frau und erste Afroamerikanerin Generalstaatsanwältin in Kalifornien. Das entspricht in dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA in etwa dem Posten des Justizministers.
Sechs Jahre später zog sie als erst zweite afroamerikanische Frau und erste Frau mit südasiatischen Wurzeln in den US-Senat in Washington ein. Dort machte sie sich bei Anhörungen mit ihrem unerbittlichen, von ihrer Arbeit als Staatsanwältin geprägten Fragestil einen Namen, mit dem sie unter anderem 2017 den damaligen Justizminister Jeff Sessions und später den designierten Verfassungsrichter Brett Kavanaugh in die Enge trieb.
Zwischenzeitlich stark belastetes Verhältnis mit Biden
Eigentlich wollte Harris bei der diesjährigen Wahl selbst als Präsidentschaftskandidatin antreten. Sie stieg aber schon Ende vergangenen Jahres angesichts schlechter Umfragewerte aus dem Vorwahlrennen der Demokraten aus.
Im August machte Biden sie dann zu seinem sogenannten Running Mate. Er hatte dafür viele gute Gründe: Harris ist eine der bekanntesten schwarzen Politikerinnen des Landes, verfügt über große politische Erfahrung, ist energiegeladen, wahlkampferprobt und stark im Debattieren.
Letzteres musste Biden zwischenzeitlich am eigenen Leib erfahren: In einer TV-Debatte der Demokraten 2019 griff Harris den früheren Vizepräsidenten im Streit über Rassismus in den USA scharf an. Das belastete das Verhältnis der beiden zwischenzeitlich stark. Für das gemeinsame politische Ziel Wahlsieg 2020 rauften sie sich aber zusammen.
Harris stellte sich im Wahlkampf ganz in Bidens Dienst, blieb aber – wie ihr republikanischer Gegenpart Mike Pence – weitgehend im Schatten der Präsidentschaftskandidaten. Beim einzigen TV-Duell der Vize-Kandidaten Anfang Oktober sorgte sie mit scharfer Kritik an Trumps Corona-Krisenmanagement für Aufsehen: „Das ist das größte Scheitern einer Regierung in der Geschichte unseres Landes.“ Das Duell mit Pence endete aber mit einem Unentschieden.
Eine potenziell einflussreiche Nummer zwei
In den vergangenen Monaten musste die mit dem Anwalt Douglas Emhoff verheiratete Harris viele niederträchtige Attacken über sich ergehen lassen. Trump bezeichnete sie als „fies“ und „Monster“, Republikaner sprachen ihren Vornamen absichtlich falsch aus und machten sich über ihn lustig. Der Präsident verbreitete zwischenzeitlich sogar die Verschwörungstheorie, Harris dürfte als Tochter von Einwanderern gar nicht Vizepräsidentin werden.
Das wird sie nicht davon abhalten, am 20. Januar ihren Amtseid als Vizepräsidentin abzulegen. Sie dürfte eine einflussreiche Nummer zwei werden. Biden dürfte sie mit vielen wichtigen Aufgaben betrauen, so wie er selbst als Stellvertreter von Präsident Barack Obama Schlüsseldossiers übernahm.
Vor allem aber wird Biden mit bald 78 Jahren als ältester Präsident der US-Geschichte in das Weiße Haus einziehen und dürfte nur eine Amtszeit anstreben. Leistet Harris als Vizepräsidentin einen guten Job, wäre sie prädestiniert, sich in vier Jahren um Bidens Nachfolge zu bewerben.