Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag von Halle hat ein Zeuge geschildert, wie er dem Attentäter entkommen ist. Der 57-Jährige hatte gerade in dem Döner-Imbiss zu Mittag gegessen, als der Terrorist den Laden angriff. Als die ersten Schüsse im Schaufenster des Ladens einschlugen, habe er zunächst gar nicht begriffen, was vor sich gegangen sei. Er sei als Naturwissenschaftler völlig fasziniert von dem zersplitternden Glas gewesen, sagte der frühere Professor, der wegen einer Konferenz in Halle gewesen war. Als der Attentäter dann den Laden betrat, habe ein anderer Gast gerufen: „Raus hier, der erschießt uns sonst alle.“
Daraufhin sei er in den hinteren Bereich des Imbisses in einen Lagerraum geflohen, dort aus einem Fenster geklettert und so in den Innenhof des Hauses gelangt. Erst dort sei ihm bewusst geworden, in welcher Gefahr er sich befand. Dass der Täter, wie auf dem Tatvideo zu sehen ist, versucht hatte, auch auf ihn zu schießen, hatte der Mann nach eigener Aussage gar nicht bemerkt.
Vor dem Wissenschaftler hatte eine 78-Jährige ausgesagt, die dem Attentäter kurz vor dem Angriff auf den Döner-Imbiss über den Weg gelaufen war. Zum Glück habe sie den Mann nicht angesprochen, sagte die Rentnerin vor Gericht. „Sonst wäre es mir wohl so gegangen wie der 40-Jährigen vor der Synagoge“, sagte die Zeugin. Kurz nach der Begegnung wurde die Frau von einem Splitter einer Granate, die der Attentäter vor dem Laden gezündet hatte, am Fuß verletzt. Darüber hinaus überstand die Frau den Angriff unverletzt.
Überlebende rufen dazu auf, den Antisemitismus im Land ernst zu nehmen
Im Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag vor Halle haben mehrere Überlebende aus der Synagoge Deutschland aufgerufen, den Antisemitismus im Land ernst zu nehmen. Viele in Deutschland würden sagen, Judenhass sei ein Problem, das durch Geflüchtete aus dem Nahen Osten nach Deutschland importiert worden sei. «Aber das Problem betrifft nicht nur den Nahen Osten, das betrifft auch unsere Bundesrepublik», sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, am Dienstag vor Gericht. Er bezweifelte etwa, dass der Angeklagte seinen Antisemitismus ohne Einfluss der Eltern entwickelt habe und die nichts davon wussten. Eine werdende Rabbinerin aus Berlin beklagte zudem, dass viele Deutsche sehr wenig über das Judentum wüssten. «Für die meisten Deutschen, sogar hier im Gerichtssaal, scheint das jüdische Leben etwas zu sein, das ausgestorben ist», sagte die 29-Jährige. Auch die öffentliche Debatte über den Anschlag und die Berichterstattung hätten gezeigt, dass die Deutschen das Problem in ihrer Gesellschaft nicht wahrhaben wollten. Symptomatisch dafür sei die große Aufmerksamkeit, die der Tür der Synagoge gegeben worden sei. „Es war nicht die Tür, die uns gerettet hat“, sagte die 29-Jährige. Sie verwies etwa auf Splittergranaten, die der Attentäter über die Mauer vor der Synagoge warf. Die hätten die Besucher der Synagoge trotz der Tür töten können. Die deutsche Öffentlichkeit aber habe nach einem „tollen Deutschen, der die Juden gerettet hat“, gesucht. Den habe es aber nicht gegeben, deshalb sei diese Erzählung falsch.
Polizei nach dem Anschlag unsensibel und respektlos
Viele Überlebende aus der Synagoge hatten im Verlauf des Prozesses kritisiert, dass die Polizei nach dem Anschlag unsensibel und respektlos mit den Gläubigen umgegangen sei. Viele davon stammen von Überlebenden des Holocaust ab, so auch eine Berliner Rabbinerin, die am Dienstag aussagte. Alle ihre vier Großeltern hätten die Shoah überlebt, die grausamen Erfahrungen ihrer Großeltern habe sie schon von Kindesbeinen geprägt und sich als Trauma durch die ganze Familiengeschichte gezogen.
„Auch wenn die Shoah vorbei ist, sind es die Folgen nicht“, sagte die Frau. „Es sind nicht nur historische Fakten, es ist nach wie vor Teil meines Lebens.“ Viele Deutsche wüssten nicht, dass dieses Schicksal des intergenerationellen Traumas in Deutschland kein Einzelfall sei. „Es geht vielen Menschen in diesem Land genau so“, sagte die 30-Jährige. „Deutschland muss die Tatsachen anerkennen, auch wenn es nur noch wenige Überlebende gibt, dass auch die Enkel und Urenkel mit diesem Trauma zu tun haben.“
Die 30-Jährige sah jedoch nicht nur Negatives in Deutschlands Umgang mit dem Attentat. So bemühe sich das Land etwa um eine gründliche juristische Aufarbeitung. „Meine Oma hatte nie die Gelegenheit, vor einem deutschen oder internationalen Gericht auszusagen“, sagte die Geistliche. Sie sei sehr froh, ihre Geschichte dort vortragen zu können. Die 30-Jährige war erst einige Monate vor dem Anschlag mit ihrem Mann, ebenfalls einem Rabbi, der vorige Woche im Prozess ausgesagt hatte, nach Berlin gekommen, um das Judentum in Deutschland zu beleben. Gemeinsam mit rund 20 jungen Juden aus Berlin war das Rabbi-Ehepaar zu Jom Kippur nach Halle, wo die Gemeinde vor allem aus älteren Gläubigen besteht gereist, um genau das zu tun.
Auch Gemeinde-Vorsitzender Privorozki berichtete vor Gericht von positiven Erfahrungen nach dem Anschlag. So hätten ihn die Solidaritätsbekundungen der Hallenser unmittelbar nach dem Anschlag aber auch noch viele Wochen danach sehr berührt und überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland Antisemitismus und Hass klar ablehne. „Das ist der größte Unterschied zwischen dem Jahr 1938, als unsere Synagoge auch angegriffen wurde, und 201“, sagte Privorozki. Mit dem Eindruck dieser Solidarität fühle er sich nach dem 9. Oktober 2019 in Deutschland mehr zu Hause als davor.
Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag. Aus Platzgründen findet das Verfahren in den Räumen des Landgerichts Magdeburg statt. Der Angeklagte, der 28-jährige Sachsen-Anhalter Stephan Balliet, gestand zu Prozessbeginn, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam. Daraufhin fuhr er weiter zu dem Döner-Imbiss und tötete dort einen 20-Jährigen.