Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat vor Schäden durch den Eingriff in die Grundrechte infolge der Coronavirus-Krise gewarnt. Er sehe derzeit die Gefahr einer „Erosion des Rechtsstaats“, falls die „extremen Eingriffe in die Freiheit aller“ noch lange andauern sollten, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ am Donnerstag. „Wenn sich das über eine längere Zeit hinzieht, dann hat der liberale Rechtsstaat abgedankt.“
Derzeit hält der Staatsrechtler die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aber für rechtmäßig. Politik und Verwaltung müssten nur immer wieder prüfen, ob es weniger einschneidende Maßnahmen gäbe. „Aber wir dürfen nicht denken, daß Not kein Gebot kennt. Das wäre dann das Ende des Rechtsstaats“, warnte Papier und fügte hinzu: „Weil wir darüber nicht genügend wissen, können wir nicht sagen, daß die Ausgangsbeschränkungen unverhältnismäßig seien. Das ist ein Dilemma.“
Der Jurist beklagte, dass die Unternehmen die schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen der Krise tragen müssten, ohne einen rechtlichen Anspruch auf Entschädigung zu haben. Offenkundig habe beim Erlass des Infektionsschutzgesetzes niemand an Verbote und Gebote mit einer solchen Tragweite gedacht. „Wir müssen darüber diskutieren, ob solche staatlichen Eingriffe durch gesetzliche Ausgleichsansprüche abzufedern sind“, sagte Papier und forderte, das Gesetz „umgehend“ zu reformieren.
Anspruch auf Intensivbetten menschenwürdig regeln
Der Verfassungsrechtler kritisierte zudem die Behandlungsempfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften für den Fall eines Mangels an Intensivbetten. Die Empfehlung, die medizinischen Erfolgsaussichten sollten das entscheidende Kriterium sein, sei heikel. „Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden“, mahnte der Professor angesichts der Erwägung, auf überfüllten Intensivstationen den jüngeren und gesünderen Patienten Priorität zu gewähren.
„Meiner Meinung nach sind diese Empfehlungen rechtlich problematisch, weil sie die Menschenwürde und den Grundsatz der Gleichheit des Menschenwürdeschutzes infrage stellen“, sagte er. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei jedes Leben gleichrangig. „Ich kann den Ärzten also nur raten, sich an diese Empfehlungen nicht blindlings zu halten.“