Auf dem jüngsten EU-Gipfeltreffen in Brüssel wurden in den Abschlusserklärungen als „historisch“ bezeichnete Entscheidungen zur Erweiterung der EU bekannt gegeben. So wurde der Ukraine und Moldawien, die erst in diesem Jahr die Aufnahme in die EU beantragt haben, der Status eines Beitrittskandidaten gewährt.
Obwohl die Ukraine naturgemäß wegen des andauernden Krieges im Mittelpunkt stand, war eines der weiteren Themen, die auf diesem Gipfel ausführlich diskutiert wurden, die Zukunft von Bosnien und Herzegowina. Das Land hatte sich bereits 2016 um eine Aufnahme in die Europäische Union beworben. Der Status eines Beitrittskandidaten wurde dem Land jedoch bisher nicht gewährt. Vom jüngsten Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs wurde erwartet, dass auch hinsichtlich Bosnien und Herzegowina endlich eine positive Entscheidung getroffen wird. Tatsächlich wurde dieses Thema auf dem Gipfel auch stundenlang intensiv erörtert.
Vor dem Gipfel war das bosniakische Mitglied des Präsidialrates von Bosnien und Herzegowina, Šefik Džaferović, in Brüssel angereist und erklärte, dass er dieses Thema mit den dortigen Staats- und Regierungschefs einzeln diskutiert habe. Džaferović erklärte weiter: „Tatsächlich wurde detailliert dargelegt, in welcher Weise Bosnien und Herzegowina die für einen Kandidatenstatus erforderlichen Bedingungen nicht erfüllt hat. Auch wurden die Behinderungen durch das nationale Parlament bei der Adaption des Regelwerks der EU detailliert dargelegt. Zudem wurde erklärt, welche geostrategischen und geopolitischen Erwägungen zur Gewährung des Status eines Beitrittskandidaten an die Ukraine und Moldawien geführt haben. Was Bosnien und Herzegowina betrifft, haben wir heute in Brüssel unser Bestes gegeben. Jetzt liegt die Entscheidung bei den EU-Mitgliedstaaten und ihren Staats- und Regierungschefs“.
Obwohl sich Bosnien und Herzegowina seit Jahren eine Entscheidung erhoffte, war die Erwartungshaltung diesmal anders. Auch wenn von Bosnien und Herzegowina nicht alle geforderten Bedingungen erfüllt wurden, hoffte man doch insgeheim, im Fahrtwind einer möglichen Gewährung des Kandidatenstatus an die Ukraine als Land, das zuvor ein ähnliches Schicksal ereilt hatte, ebenso zum Beitrittskandidaten zu werden. Dies geschah jedoch nicht. So haben sich Mitgliedsländer wie Deutschland, die Niederlande und Frankreich gegen die Gewährung des Status eines Beitrittskandidaten an Bosnien und Herzegowina ausgesprochen, und dementsprechend ist Bosnien und Herzegowina auch diesmal mit leeren Händen zurückgekehrt. Als Begründung wurde angeführt, dass das Land noch nicht alle Bedingungen erfüllt, sprich die Verabschiedung der von der EU geforderten Reformen und Gesetze nicht umgesetzt hat. Aber offenbart diese Entscheidung nicht auch die Heuchelei in der EU?
Es ist doch allen Beteiligten klar, wer die besagten Reformen und Gesetze in Bosnien und Herzegowina blockiert. Es waren die serbischen und kroatischen Entscheidungsträger in Bosnien und Herzegowina, die jede einzelne Reform verhindert haben und damit das ganze Land leiden lassen. Entsprechend obliegt es der Europäischen Union, Sanktionen gegen serbische und kroatische Politiker auszusprechen, die den Reformprozess des Landes auf dem Weg in die EU blockieren. Auch wenn die bosniakischen Vertreter in keiner der Fragen Hindernisse aufbauen, erzielt man nicht die gewünschten Ergebnisse, weil die serbischen und kroatischen Führer dies nicht zulassen. Letztlich entsprang das aktuelle politische System nicht der Entscheidung des bosnischen Bevölkerungsteils. Das Dayton-Abkommen mit dem dort vorgesehenen Regierungssystem wurde ihm aufgezwungen, um den Krieg zu beenden. Dennoch müssen sich alle Menschen in Bosnien und Herzegowina den Folgen fügen.
Viola von Cramon, Mitglied des Europäischen Parlaments, bezeichnete gegenüber dem Medienorgan Euroactiv die Gipfelentscheidungen als „billig“ und bewertete den Gipfel aus Sicht des Westbalkans als völligen Misserfolg. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte zwar im Vorfeld des Gipfels in Brüssel, dass sechs Länder des Balkans, nämlich Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Albanien und Kosovo auf Deutschland zählen könnten. Dennoch lehnte er bei der entsprechenden Abstimmung zum Kandidatenstatus von Bosnien und Herzegowina den Antrag des Landes ab. Wie also sollen ihm die besagten Länder noch vertrauen?
Die Bosniaken in Bosnien und Herzegowina stellen mit 51 Prozent die Mehrheit im Land. Warum also muss das gesamte Land die politischen Folgen ertragen, wenn die bosnischen Verantwortlichen alle erforderlichen Schritte für die Aufnahme des Landes in die EU unternehmen und es letztlich an den politischen Vertretern der Serben und Kroaten liegt, dass das Land in puncto EU-Mitgliedschaft nicht von der Stelle kommt? In diesem Sinne wäre es nur fair, dass die Rechnung der richtigen Adresse, also der serbischen und kroatischen Führung in Bosnien, präsentiert wird. So gesehen kommt die Verweigerung des Kandidatenstatus einer Belohnung der destruktiven politischen Kräfte im Land gleich. Am Ende wird die gesamte Bevölkerung bestraft. Die Bosniaken haben bereits in den Jahren 1992 bis 1995 einen hohen Preis für das Schweigen Europas bezahlt. Und noch heute leiden sie unter den Folgen falscher politischer Entscheidungen.
Wenn also Bosnien und Herzegowina die Erwartungen der Europäischen Union nach allem, was im Land geschehen ist, noch immer nicht erfüllen kann, sollte die Europäische Union zumindest klarstellen, woran das liegt und gegen die Verantwortlichen entschieden vorgehen. Also eben nicht gegen das ganze Land und seine Bürger. Andernfalls ermutigt sie so nur diejenigen Politiker, die ihre destruktive Politik in Bosnien und Herzegowina fortsetzen.