Die Stimmung in der Welt, in Europa und speziell in Deutschland lässt sich derzeit einfach nicht aufhellen. Der Pessimismus treibt sich um wie ein Gespenst. Seit Beginn der Jahrtausendwende schlendert unser Erdball von einer Krise in die nächste. Die eigentliche „Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 sprach, also nur drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, ereignete sich bereits am 11. September 2001. Dem folgte die Finanzkrise 2008, welche die sogenannte Zeitenwende weiter beschleunigte. Zwei Jahre später, ab 2010, war es die Währungs- und Schuldenkrise (Eurokrise), die für Verzweiflung sorgte. Spätestens mit der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 begann die Klimakrise, die unseren Alltag in vielerlei Formen immer noch stark beeinflusst. Aber auch die Flüchtlingskrise, die 2015/2016 ihren Lauf nahm, bereitete vielen im Land Kopfschmerzen. Nicht zuletzt markierten Corona-Krise und der Angriff Russlands gegen die Ukraine sowie die dadurch explodierenden Preise einen weiteren Tiefpunkt in der Gesellschaft. Russlands Invasion, die gegenseitigen Sanktionen und die gekappten Gaslieferungen des Kreml bewirkten eine Energie- und Inflationskrise, wie sie Deutschland und der Rest Europas seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben.
Risiko für den Koalitionsfrieden
Die Frage, wie aus diesem Dauerkrisenmodus herauszukommen ist, dominiert derzeit die Debatten. Allerorts wird nach Entlastungsmöglichkeiten gesucht, Politiker überbieten sich mit Verzichtaufrufen und die Bevölkerung wird auf härtere Zeiten vorbereitet. Die finanziellen Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger steigen in besorgniserregendem Tempo an. Damit einher geht aber auch eine deutliche Gerechtigkeitsfrage, besser gesagt Verteilungsgerechtigkeitsfrage, was die ohnehin schon angespannte Situation weiter trübt. So steigt – nicht nur in Deutschland – der Druck von Tag zu Tag, die Sanktionen gegenüber Russland zurückzunehmen, um im Gegenzug die Menschen wieder mit günstigerem Gas zu versorgen. Auf der anderen Seite nimmt der Solidaritätsdruck auf hochprofitable Unternehmen zu, allen voran aus der Energiebranche, sich an den Entlastungen – Stichwort: Übergewinnsteuer – zu beteiligen.
Inflation größte Belastung für Familien mit niedrigen Einkommen
Die Inflationsrate in Deutschland lag im August bei 7,9 Prozent. Allerdings bekräftigt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, dass Familien mit niedrigem Einkommen überdurchschnittlich hoch – mit 8,8 Prozent im August – von der Inflation betroffen waren, während Singles mit hohem Einkommen im Vergleich mit nur 6,7 Prozent die geringste Teuerungsrate hatten. „Wenn demnächst die Inflation zusätzlichen Schub erhält, weil 9-Euro-Ticket und Tankrabatt auslaufen und die Gasumlage eingeführt wird, dürfte die soziale Schere bei den Belastungen sogar noch weiter auseinandergehen. Denn zusätzliche Preissteigerungen bei der Haushaltsenergie schlagen bei Haushalten mit niedrigeren Einkommen besonders stark durch“, so der Inflationsmonitor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Eine Vertiefung der sozialen Diskrepanz, vor der die gewerkschaftsnahe Stiftung warnt, bedeutet aber gerade unter den derzeitigen Bedingungen mehr Nachteile für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Politik ist deshalb mehr denn je in der Pflicht, den sozio-ökonomischen Kontrast auszubalancieren.
Teuerung frisst Bonus bei Hartz IV
Ein weiterer Kraftakt für Familien aus den untersten Einkommensrängen und für Subventionsbezieher ist der Umstand, dass der Hartz-IV-Satz, der ab 2023 Bürgergeld heißen soll, eine ausreichende Grundversorgung nur schwer ermöglicht. Für eine gesunde Ernährung reicht das Geld beispielsweise kaum aus. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, warnt vor dem Hintergrund der derzeitigen Teuerungsrate vor realen Kaufkraftverlusten. Die Anpassung des Regelsatzes zum 1. Januar 2023 um etwa 50 Euro reicht unter den derzeit angespannten Lebenshaltungskosten nicht aus. Sozialverbände wie der Paritätische Wohlfahrtsverband fordern vielmehr eine Erhöhung der Hilfsstützen um mindestens 200 Euro monatlich. Die Unstimmigkeiten in der Großen Koalition, auf der einen Seite zwischen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und auf der anderen Seite zwischen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Lindner, demonstrieren der Öffentlichkeit, wie tief die ideologischen Grabenkämpfe derweil sind. Alle drei Minister, die alle verschiedenen Parteien angehören und deren Wählerklientel repräsentieren, scheinen hier ideologische Vorgaben zu verfolgen, sodass ihre Forderungen und geplanten Maßnahmen gerade in diesen schwierigen Zeiten nicht besonders ausgewogen wirken. Kritiker werfen den Koalitionsvertretern deshalb Klientelpolitik vor. In der gegenwärtigen Situation wären die Parteien jedoch besser beraten, Einigkeit und Zusammenhalt zu zeigen. Und zwar genau den Zusammenhalt, den sie seit Monaten einfordern.
Ideologische Grabenkämpfe führen nicht weiter
Man muss es deutlich sagen: Die Ampelkoalition befindet sich überhaupt nicht in einer komfortablen Lage. Die anfänglich zur Schau gestellte Einigkeit und Harmonie ist verflogen. Und man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass es das Drei-Parteien-Bündnis nicht leicht haben wird, diese schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu überwinden, ohne dass die Koalition daran scheitert. Die Regierung kann nur bestehen bleiben, wenn sie ihre ideologisch festgesetzten Standpunkte verlässt und mehr Flexibilität an den Tag legt.