24.11.2021, Berlin: Christian Lindner, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stellen auf einer Pressekonferenz den gemeinsamen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP für die künftige Bundesregierung vor. (dpa)
Folgen

Mit den Worten „Die Ampel steht“ hat der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz den Koalitionsvertrag präsentiert, auf den sich Sozialdemokraten, Grüne und Liberale geeinigt haben. Für Form, Inhalt und Tempo gab es Lob, sogar vom politischen Gegner in Person von Noch-CDU-Chef Armin Laschet, der sich nach der Wahl noch schwertat, dem Sieger überhaupt zu gratulieren. Die Ampel steht also, aber wofür genau? Wird es reichen, um Basis und Wähler zu überzeugen? Wird mit dem auf 177 Seiten ausgeführten Regierungsprogramm Deutschland so zu reformieren sein, dass es für die kommenden Aufgaben gewappnet ist?

Inhaltlich ist von einem revolutionären Ergebnis die Rede

Dass es nach kurzen Verhandlungen ein solch ambitioniertes Ergebnis in der Breite wie in der Tiefe geben würde, war im Wahlkampf nicht abzusehen, als es noch darum ging, sich programmatisch voneinander abzugrenzen. Zwar verwiesen politische Kommentatoren auf die inhaltlichen Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber kulturell und an der jeweiligen Basis sind die Unterschiede nach wie vor groß. In der Mitte der Gesellschaft, wo sich die Koalitionäre verorten, werden in Deutschland Wahlen entschieden. Dort haben sich die Wählerschaften einander angenähert und erlauben heute nicht nur rechnerisch mehr Optionen für die Regierungsbildung. Auch die persönliche Bindung an ein Lager und damit für eine bestimmte Wahlentscheidung ist flexibler geworden. Die Wählerschaft erwartet zum einen eine Politik, die den Status quo überwindet und Weichen für die Zukunft stellt. Sie erwartet aber auch Schutz vor den Folgen der Veränderung und soziale Gerechtigkeit. Dabei gibt es unterschiedliche Vorstellungen, was Tempo, Reichweite und Reihenfolge der Reformen betrifft. Aber es dominiert das Narrativ, dass es nicht einfach so weitergehen kann, und dies legitimiert die Reformvorhaben der neuen Ampel-Koalition.

Programmatisch erklärt die neue Regierung, es gehe ihr um Fortschritte bei Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. In dieser Formel findet sich jede der drei Parteien explizit wieder. Das hat jedoch nicht nur positive Seiten für die Zustimmung des jeweiligen Lagers. Es birgt auch die Gefahr, dass die Verantwortung für unpopuläre Schritte einseitig einem Partner aufgeladen wird, so wie zeitweilig in den Sondierungsgesprächen der Eindruck entstand, alles rund ums Klima sei ein Partikularinteresse der Grünen und nicht die zentrale gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe.

Als schwächster Wahlsieger aller Zeiten musste die SPD inhaltlich viele Zugeständnisse machen, um die selbstbewussten Partner ins Boot zu holen. Erreicht hat sie dennoch viel in ihrem Kernthema soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung.

Die Grünen konnten starke ökologische Akzente im Klimaschutz und der E-Mobilität setzen: In weniger als einer Generation soll Klimaneutralität erreicht werden. Das ist eine Ansage mit Folgen, die sich – analog zur Digitalisierung – heute noch nicht überschauen lassen. Rechtspolitisch erkennt man ihre Handschrift beim Kampf gegen Rechtsextremismus und der Reform der Abtreibungsgesetzgebung. Bei drei von den fünf Ministerien, die künftig von Grünen geführt werden, geht es um Ökologie: Wirtschaft und Klima, Umwelt und Landwirtschaft.

Die FDP hat sich inhaltlich mit ihren roten Linien durchgesetzt: Es gibt keine Steuererhöhungen und kein Aussetzen der Schuldenbremse. Die Besetzung des Finanzministeriums wurde medial als Machtkampf und Richtungsfrage stilisiert. In Europa gilt Lindner als strenger Haushälter und Gegner einer EU-Fiskalunion. Er wacht künftig über die ambitionierten Finanzierungsvorhaben und muss nach kreativen Lösungen für die Gegenfinanzierung suchen. Die Finanzierungsfrage ist die große Unbekannte im Programm.

In der Europapolitik bekennt sich die neue Regierung mit klaren Worten zur Rechtsstaatlichkeit – was in der Vergangenheit eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre, nun aber als Signal an Polen und Ungarn zu verstehen ist. Sie sieht in der laufenden Konferenz zur Zukunft Europas die Vorstufe zum Konvent und weicht damit nicht mehr der Frage aus, ob die EU-Verträge reformiert werden sollten und welches Europa Deutschland anstrebt.

Auch in die Migrationspolitik kommt Bewegung, die das Einwanderungsland Deutschland verändern wird.

Personen und Posten

Seit dem Wahlabend vermieden es alle Koalitionäre, über Posten zu sprechen, obwohl gerade die Personalisierung von Politik ein Lieblingsthema der Medien ist. Als die Inhalte dann feststanden und es ans Personal ging, hatten die Grünen aber doch Schwierigkeiten, die bislang erreichte Einigkeit der früher streitlustigen Flügel nach außen zu bewahren. Die Vorstellung der neuen Ministerinnen und Minister musste einen Tag verschoben werden, was einen Vorgeschmack auf die Herausforderungen gibt, vor denen die Geschlossenheit der Partei unter den Bedingungen von Regierungsverantwortung steht.

Die SPD will erst die als sicher geltende Bestätigung des Erreichten durch die Parteibasis feiern lassen und dann die jeweiligen Ministerinnen und Minister präsentieren. Das mag taktisch geschickter sein, weil es Streit um Posten vom Zustimmungsakt zu den Inhalten trennt. Schwer zu vermitteln wird jedoch die Besetzung der Ministerien für Arbeit und Soziales, Gesundheit, Verteidigung, Entwicklung und Bau mit ausschließlich Personal der Großen Koalition. Erfahrung und Bekanntheit mögen Trümpfe sein. Wer Reformen und einen Neustart verspricht, wird erklären müssen, was die bisherigen Regierungsmitglieder diesmal anders und besser machen werden.

Besser gemacht als bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 hat es die FDP. Sie bringt nicht nur liberale Verhandlungserfolge ein, sondern hat inzwischen auch ein kompetent auftretendes Team am Start, das die Ein-Mann-Partei um Lindner bei der letzten Bundestagswahl so noch nicht aufbieten konnte. Die Liberalen stellen das begehrte Finanzministerium, dürfen sich um Justiz, Bildung, Forschung und Digitalisierung kümmern. Dass sie obendrein auch das Verkehrsressort besetzen, wird viele Grüne schmerzen. Es unterstreicht den Erfolg der FDP bei diesen Koalitionsverhandlungen, den sie aber nicht öffentlich auskostet, sondern sich vorläufig als Teamplayer präsentiert.

Wollen und Können

Der Anfang – dem bekanntlich ein Zauber innewohnt – ist mit der Vorlage eines Regierungsprogramms gemacht, das für Wandel und Absicherung steht. Seine Umsetzung erscheint als eine gewaltige Aufgabe und wird wohl nicht nur durch die Pandemie gebremst. Denn es ist eine Sache, sich zu wünschen, man könne sich auf die Reformvorhaben konzentrieren und diese nacheinander abarbeiten. Eine andere Sache ist es, dazu auch zu kommen. Denn wie Vorgängerregierungen erleben mussten: Krisenbewältigung bindet Kräfte, die man lieber für die angekündigten Vorhaben verwendet hätte. Keine der jüngsten Krisen stand im Koalitionspapier. Und analog zum Fußball gilt: Nach der Krise ist vor der Krise.

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