Die neue türkische Netflix-Serie „Ethos“ ist derzeit überall ein Gesprächsthema. Der türkische Titel der Serie lautet „Bir Başkadır“ und bedeutet „Ist etwas anders“ – und dieser Titel passt eigentlich besser zur Serie als der englische Titel. Das Drama handelt von verschiedenen Charakteren, die in Istanbul leben und deren Wege sich kreuzen.
Achtung Spoilerwarnung: Die Details in diesem Artikel können die Spannung der acht Folgen vorwegnehmen. Wer die Serie noch nicht gesehen hat, sollte den Artikel später lesen.
Der 43-jährige Berkun Oya schrieb und inszenierte die Serie. Er ist Regisseur, Drehbuchautor und hat Theatererfahrung. Die Regie ist stark, die Aufnahmen sind professionell gedreht und bearbeitet – dennoch weist die Serie Mängel auf.
In den ersten Minuten lernt der Zuschauer die Hauptfigur Meryem kennen – gespielt von Öykü Karayel. Es handelt sich um eine Frau, die das muslimische Kopftuch trägt und in bescheidenen Verhältnissen lebt. Meryem fällt in dem Haus, wo sie als Putzfrau arbeitet, in Ohnmacht. Ab da wird die Geschichte mit einer Rückblende erzählt: Vor einem Jahr suchte Meryem wegen ihrer Ohnmachtsanfälle eine Psychiaterin auf – die jedoch keine physische Erkrankung feststellen konnte.
Regisseur Oya stellt in der Serie die Bedeutung von Meryems Namen in den Vordergrund. In einer Sitzung bei der Psychiaterin Peri – gespielt von Defne Kayalar – erklärt Meryem die Herkunft ihres Namens. Meyrem bedeute „Maria, die Mutter des Propheten Jesus“. Damit ist ihre Rolle festgelegt, sie ist die jungfräuliche, „gute“ Figur im Zentrum der Ereignisse und ist fehlerfrei.
Die Psychiaterin findet heraus, warum Meryem die Ohnmachtsanfälle hat: Eine Hochzeit scheint der Auslöser zu sein – ob es nun eine Hochzeit ist, an der sie teilgenommen hat, oder eine Hochzeitssendung, die sie im Fernsehen gesehen hat. Die Bedeutung des Befunds wird erst später erklärt.
Peri ist eine typische „weiße Türkin“. Sie besuchte die besten Schulen, studierte im Ausland, kehrte dann in die Türkei zurück, wo sie als Psychiaterin arbeitet. Auch sie ist zutiefst unglücklich, was sich in den Therapiesitzungen bei Gülbin zeigen wird. Gülbin – gespielt von Tülin Özen – ist ihre Freundin und zugleich Psychiaterin. Das führt in der Serie zu Komplikationen.
Meyrem putzt im Haus von Sinan und schwärmt für ihn. Sinan – dargestellt von Alican Yücesoy – ist ein machohafter Frauenheld. Er hat ein Verhältnis mit der Psychiaterin Gülbin und gleichzeitig mit Melissa – gespielt von Nesrin Cavadzade. Melissa ist eine türkische Schauspielerin und freundet sich in der Yoga-Klasse mit Peri an.
Da wäre noch der Hodscha (Settar Tanrıöğen) – von ihm holt sich Meryem den Segen für die Therapiesitzungen. Seine Tochter Hayrünnisa (Bige Önal) liebt ihre Eltern sehr und sie liebt es auch, „ausländische Musik“ zu hören – dafür wird sie von Gleichaltrigen verdächtig beäugt.
Als Mesude, die Frau des Hodschas, auf einer Reise ins Dorf stirbt, unterrichtet Hayrünnisa ihren Vater von ihrer Absicht: Sie möchte zur Universität nach Konya zurückkehren. Das sei vor dem Tod ihrer Mutter so entschieden worden. Der Hodscha ist verärgert, weil er nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen wurde. Dennoch unterstützt er das Vorhaben der Tochter. Es sei noch angemerkt, dass Hayrünnisa eine von zwei lesbischen Figuren in der Serie darstellt – sie repräsentieren die LGBT-Community. Zum Ende der Serie nimmt sie auch ihr Kopftuch ab und erklärt ihrem verwirrten Vater: „Ich bin bereit, das Haus [so] zu verlassen.“ Er hingegen akzeptiert sie.
Eines der Probleme an der Serie ist, dass jede Figur repräsentativ zu sein scheint, wobei alle aus irgendeinem Grund leiden. Sie sind Schachfiguren auf dem Brett des Regisseurs und bereit, seie Anweisungen zu befolgen.
Da wäre Peri, die als Psychologin für die Bildungsschicht steht. Sie lehnt eine Ehe ab, ist aber die ganze Zeit zutiefst unglücklich und einsam. Ihre Psychiaterin Gülbin hat einen Bruder mit Behinderung und versteht sich nicht mit der älteren Schwester (Derya Karadaş), die ein Kopftuch trägt. Wenn ihre Eltern nicht da sind, kriegen sie sich in die Haare. Die Tatsache, dass es sich um eine kurdische Familie handelt, wird nicht weiter vertieft.
Sinan, der Playboy, ist ebenfalls zutiefst unglücklich. Gülbin erfährt von Melissa und beendet daraufhin die Beziehung. Er hört, wie sie im Fitnessstudio über ihn und Melissa tratscht. Was er hört, ist natürlich nicht besonders angenehm.
Er schwelgt in Erinnerung an die guten alten Zeiten, als sein Vater noch lebte. Die Beziehung zu seiner Mutter ist schwierig. Diese ist dem Nachbarsjungen emotional näher als ihrem eigenen Sohn. Das führt zu Streitigkeiten. Später entschuldigt er sich dafür.
Was an der Figur Sinan falsch erscheint, ist seine Suche nach Schutz in Meryems Kopftuch, die er in einer Schublade in seinem Badezimmer aufbewahrt. Wenn er unglücklich ist oder den Tränen nahe, hält er das Tuch an die Nase und riecht daran. Zweifellos steht der reine Seifenduft für „die Jungfrau Maria“, eine Mutterfigur.
Die Eltern von Peri stammen aus reichen Familien – sie wohnen in einem „Yalı“, einem Strandhaus am Meer. Auch bei ihnen geht es manchmal schroff zu, wenn sie zum Beispiel über simple Dinge wie „Facebook Forwards“ oder über die Namen der Hausmädchen streiten. Wenn Peris Mutter das Dienstmädchen Hazal ruft und nach einem türkischen Kaffee verlangt, korrigiert Peri sie. Das sei Reşdie, sagt sie, das Dienstmädchen Hazal arbeite dort nicht meh. Ihre Mutter zuckt dazu nur die Achseln. Peri macht dann aber einen ähnlichen Fehler. Als sie in der Klinik versucht, Meryem einzuholen, tippt sie einer jungen Frau mit Kopftuch auf die Schulter.
Diese Art von didaktischen und allbekannten Deutungen des Regisseurs verderben die Serie ein wenig. Außerdem formt Oya die Charaktere mit einer gewissen Offensichtlichkeit nach seinem Willen – sodass sich die Geschichte positiv entwickelt, was nicht ganz realistisch ist. Das ist etwa bei Yasins Akzeptanz, eine vergewaltigte Frau zu heiraten, der Fall. Oder bei Meryem, die sich schließlich dem Hodscha anvertraut, der wiederum in sie verliebt ist.
Es gibt aber auch brilliante Filmschnitte: Die Szene, in der Meryem die Alufolie des mit Schokolade überzogenen Marshmallows glättet zum Beispiel – etwas, was alle türkischen Kinder schon mal gemacht haben. Oder die Einstellung, wo die Kamera auf dem Boden liegt und sich auf Füße konzentriert, die in Mesudes Erinnerungen hochkommen, sind brilliante Filmschnitte. Ebenso der Soundtrack, der auf eine nostalgische Reise zurück in die 1980er Jahre begibt. Videoclips von Ferdi Özbeğen, einem offen schwulen Arabesken-Sänger, beenden einige Episoden. Auch taucht ein musikalisches Zwischenspiel aus der Eurovision von 1975 auf.
Zwar verdient „Bir Başkadır“ laut Netflix-Bewertung ohne weiteres viel Lob. Dennoch ist die Realität viel komplizierter. Obwohl die Serie für den Versuch, so viele Charaktere in nur acht Folgen zu jonglieren, gelobt werden sollte – fällt sie manchmal auch zu kurz.
Man muss Regisseur Oya dennoch gratulieren. Er hat eine Diskussion ausgelöst – zwischen den inländischen Türken, der Diaspora und vermutlich auch darüber hinaus. Die Unterschiede in den sozialen Schichten und die Archetypen werden in der Gesellschaft nicht immer offen diskutiert – jetzt gibt es Anlass dafür.
Es besteht die Hoffnung, dass er weiterhin Filme dreht, die herausfordern und konfrontieren. Schließlich ist es einfacher zu kritisieren als etwas zu tun, wie ein türkisches Sprichwort sagt: „Iğneyi kendine çuvaldızı başkasına batır“. Man soll also erst an der eigenen Nase fassen, bevor man andere kritisiert. Der Spiegel, den Oya der Gesellschaft vorhält, ist vielleicht nicht immer glatt und allumfassend – er ist trotzdem ein Anfang.