In ihrer Änderungsschneiderei in Warschau legt Marina Schewtschenko einen rosa Ärmel unter die Nähmaschine. „Manchmal kann ich selbst gar nicht fassen, wie gut wir es geschafft haben“, sagt die 43-jährige Ukrainerin. Am 17. März, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs auf ihr Heimatland, war sie mit ihrem 15-jährigen Sohn und der 9-jährigen Tochter aus der ostukrainischen Stadt Dnipro nach Polen geflohen. „Ich wollte meine Kinder nicht traumatisieren. Deshalb habe ich nicht in der Ukraine ausgeharrt, bis sie Dnipro bombardieren.“
Zunächst kamen sie in einem Hostel unter, dann lebten sie vier Monate beengt in der Wohnung einer Polin. Ein Jahr nach Kriegsbeginn haben Marina und ihre Kinder in Polen Fuß gefasst. Die Schneiderin führt ihr eigenes Änderungsatelier, ihr Sohn macht eine Ausbildung zum Koch, die Tochter besucht eine polnische Grundschule. Eine Rückkehr in die Ukraine plant Marina nicht. Sie sagt: „Polen ist in der EU. Wenn meine Kinder hier ihre Ausbildung machen, ist das international anerkannt.“
So wie Marina geht es vielen Ukraine-Flüchtlingen in Polen - und genauso Deutschland. Je länger der Krieg dauert, desto mehr sehen sie ihre Perspektiven in dem Land, das ihnen Zuflucht geboten hat. Deutschland hat nach Polen die meisten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Laut einer repräsentativen Umfrage wollen 37 Prozent der Geflüchteten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 Prozent von ihnen bis Kriegsende, wann immer das sein wird. 27 Prozent der mehrheitlich weiblichen Flüchtlinge sind noch unentschieden. Und nur 2 Prozent planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen-
„‚Bald fahre ich nach Hause‘ - diesen Satz hören wir immer seltener“
„‚Bald fahre ich nach Hause‘ - diesen Satz hören wir immer seltener“, sagt Olena Senyk, die in Warschau für die Stiftung Ukrainisches Haus die Abteilung für Familienhilfe leitet. Kurz nach Kriegsbeginn sei es vor allem um die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge gegangen: Essen, Unterkunft, Kleidung. „Inzwischen bieten wir auch Berufsberatung und Sprachkurse an.“
Seit Kriegsbeginn registrierte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR mehr als acht Millionen Ukraine-Flüchtlinge in Europa. Einen Status als Schutzsuchende haben demnach gut 4,8 Millionen, davon mehr als 1,5 Millionen in Polen. Allerdings räumt auch das UNHCR ein, dass die Angaben zur Zahl der Schutzsuchenden ungenau sind, da auch Mehrfachmeldungen in mehreren Ländern erfasst werden.
Deutschland hat etwas mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Obwohl Polen mit seinen knapp 38 Millionen Einwohnern einer verhältnismäßig großen Zahl von Ukrainern Schutz bietet, ist der Rückhalt für die Flüchtlinge in der Gesellschaft weiterhin hoch. Das zeigt eine Umfrage von Soziologen der Universität Warschau von Januar. Demnach vertreten 87 Prozent der Befragten die Ansicht, dass ihr Land den Ukraine-Flüchtlingen helfen muss. Und mehr als ein Drittel (37 Prozent) findet, Polen solle den Flüchtlingen die dauerhafte Ansiedlung erlauben.
Kommunen klagen über zu geringe Kapazitäten
Auch in Deutschland ist das Verständnis für die Bedürfnisse der ukrainischen Flüchtlinge, die in den Staaten der Europäischen Union ohne Asylantrag aufgenommen werden, groß. Da jedoch seit einigen Monaten die Zahl der Asylbewerber, die in Deutschland Schutz suchen, steigt, gibt es in zahlreichen Kommunen inzwischen Probleme. Die Kapazitäten für Unterbringung, Sprachkurse, Schul- und Kitaplätze reichen nicht aus. Da Männer im wehrfähigen Alter die Ukraine meist nicht verlassen dürfen, sind gut 69 Prozent der erwachsenen Kriegsflüchtlinge, die in Deutschland Aufnahme gefunden haben, weiblich.
Rund 140.000 Flüchtlinge aus der Ukraine haben Deutschland - Stand 15. Januar - nach offiziellen Angaben wieder verlassen, entweder um in ihre Heimat zurückzukehren oder in ein anderes Land weiterzureisen. Die Gründe sind vielfältig, dazu zählen Heimweh, pflegebedürftige Angehörige, die Sorge, die alte Arbeitsstelle zu verlieren. Wer aus einer Stadt stammt, die im Krieg stark zerstört wurde, ist eher geneigt, über eine spätere Familienzusammenführung in Deutschland nachzudenken.
Bürgergeld für Ukrainer entfacht Diskussion
Dass die Ukraine-Flüchtlinge über eine EU-Richtlinie sofort bleiben dürfen und Bürgergeld erhalten, andere Schutzsuchende aber nicht, hat in Deutschland in manchen Milieus eine Diskussion über Flüchtlinge erster und zweiter Klasse ausgelöst. Zumindest beim Zugang zu den Integrationskursen gibt es keinen Unterschied. Denn die Ampel-Regierung hat entschieden, dass nicht nur Ausländer mit guter Bleibeperspektive solche Kurse besuchen dürfen.
Auch wenn das mancherorts zu Kapazitätsproblemen führt, sagt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan: „Die Entscheidung bleibt richtig, die Integrationskurse für alle unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunft zu öffnen, denn es ist wichtig, dass alle direkt von Anfang an die Möglichkeit haben sollen, Deutsch zu lernen und sich hier einzubringen.“
Von Kriegsbeginn bis Ende Januar wurden laut Bundesarbeitsministerium rund 430.600 Zulassungen zu Integrationskursen erteilt und circa 224.100 Teilnahmen verzeichnet. Nach vorläufigen Angaben waren im vergangenen November rund 125.000 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt, etwa 67.000 mehr als vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022.
Ältere Menschen tun sich oft mit Fluchtsituation schwer
Polen gewährt den ukrainischen Flüchtlingen kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem, außerdem erhalten sie ein einmaliges Begrüßungsgeld und haben Anrecht auf monatliches Kindergeld in Höhe von 110 Euro pro Kind. Mehr gibt es nicht. In Deutschland lebt die Mehrheit der Geflüchteten laut den letzten verfügbaren Daten vom vergangenen Herbst von Sozialleistungen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit erhielten im Oktober rund 432.000 erwerbsfähige Flüchtlinge aus der Ukraine und 218.000 nicht erwerbsfähige - in der Regel Kinder - Bürgergeld.
Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhielten Ende September 2022 etwa 65.000 ukrainische Staatsangehörige, das waren rund 45.000 mehr Leistungsbezieher als vor dem Krieg. Nicht allen Ukraine-Flüchtlingen in Polen fällt der Neuanfang so leicht wie Marina, der Schneiderin. Besonders Ältere tun sich schwer.
Der Unternehmer Wadym Onischtschuk, der mit anderen Privatleuten eine Sammelunterkunft am Stadtrand von Warschau betreibt, sagte: „Derzeit leben bei uns 1100 Menschen. Für viele sind wir nur Durchgangsstation, aber 600 kommen einfach nicht weg.“ Zu den Dauergästen gehört Wladimir, ein pensionierter Koch aus der Gegend um Cherson. „Mein Haus ist zerstört, wohin soll ich zurück?“ fragt der 65-Jährige. Er will weiter, nach Deutschland, dort seien die Bedingungen besser, sagt er. Trotzdem hängt Wladimir seit drei Monaten in der Sammelunterkunft fest. Warum er nicht nach Deutschland geht? Er selbst findet keine Antwort. „Vielleicht hat er Angst, noch einmal neu anzufangen“, sagt eine freiwillige Helferin leise.