1989 verabschiedeten die UN die Kinderrechtskonvention. Seitdem wird weltweit jedes Jahr am 20. November der Internationale Tag der Kinderrechte begangen. TRT Deutsch hat mit Üwen Ergün, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung beim KRF (KinderRechteForum), über Kinderarmut, die aktuelle Situation der Kinderrechte in Deutschland und die Herausforderungen beim Einsatz für Kinderrechte gesprochen.
Herr Ergün, wie wird der Internationale Tag der Kinderrechte in Deutschland und weltweit begangen?
Der Internationale Tag der Kinderrechte hat das Ziel, weltweit auf die Rechte von Kindern aufmerksam zu machen und unser Bewusstsein für die Bedürfnisse und den Schutz ihrer Rechte zu stärken. Bundesweit und weltweit finden viele unterschiedliche Initiativen von Regierungen, Schulen, NGOs und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren statt – Demonstrationen und Kinderfeste etwa, aber auch Kampagnen, die die Kinderrechte in den Mittelpunkt rücken.
Wie zum Beispiel?
Die jährliche Aktion von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Sie hat beispielsweise im Jahr 2023 Gebäude wie Rathäuser und Denkmäler blau beleuchtet, um ein starkes symbolisches Zeichen zu setzen. Kinderarmut, Bildung und die Umsetzung der Kinderrechte im nationalen Recht sind die zentralen Themen des heutigen Tages. Vielfach werden Forderungen an die Politik gestellt mit dem Ziel, die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland vollständig umzusetzen.
Welche Kinderrechte sind in Deutschland aktuell am meisten gefährdet?
Die Liste ist leider lang und die weltweite Situation besorgniserregend. Wir kommen mit dem Krisenmanagement gar nicht hinterher. Speziell in Deutschland sehe ich das Kinderrecht auf Gesundheit als akute Herausforderung an, insbesondere bei der mentalen Gesundheit. Immer mehr Studien zeigen, wie hoch die psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen durch Depressionen, Angstzustände und Stress sind – nicht zuletzt als Folgen der Corona-Pandemie. Generell gibt es zu wenige, niedrigschwellige Angebote und Hilfen.
Welche Kinderrechte sind sonst noch akut bedroht?
Das Kinderrecht auf angemessene Lebensbedingungen steht derzeit stark unter Druck. Auch in Deutschland steigt die Kinderarmut zunehmend. Laut der Bertelsmann-Studie aus 2021 sind jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland von Armut bedroht. Das sind knapp 2,9 Mio. Kinder und Jugendliche sowie 1,5 Mio. junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren. Aus der Armut in den Haushalten ergeben sich oft weitere Schwierigkeiten in anderen Bereichen wie Bildung, Gesundheit und sozialer Teilhabe. Dadurch verschärft sich die Ungleichheit in der Gesellschaft.
Ein weiteres bedrohtes Kinderrecht ist das Recht auf eine gesunde Umwelt und gute Lebensbedingungen. Die Auswirkungen der Klimakrise und des Klimawandels – sei es durch Extremwetter, Luftverschmutzung oder den Verlust natürlicher Lebensräume – stellt ein kinderrechtliches Problem dar. Dazu machen wir beim KRF aktuell viele Veranstaltungen, um diese Herausforderung der Zukunft zu meistern.
Wie sieht es mit dem Schutz der Kinder im Falle von Krieg und Flucht aus?
Auch das ist ein vielerorts aktuell stark bedrohtes Kinderrecht. Die anhaltenden weltweiten Konflikte, darunter der Krieg in der Ukraine, aber auch ganz frisch in Gaza und im Libanon, führen dazu, dass viele Kinder Schutz suchen und auf der Flucht sind – auch in Deutschland. Insbesondere die letzten, politischen Ereignisse und Regulierungen stellen uns hier vor immense Herausforderungen.
Was macht das KinderRechteForum genau?
Das KRF ist eine gemeinnützige Organisation, die ich 2014 gegründet habe. Warum? Ich habe mich schon als Kind für Kinderrechte engagiert und seit meinem 8. Lebensjahr z.B. als Junior-Botschafter bei UNICEF Deutschland mitgewirkt. Durch die Gründung des KRF habe ich mich entschieden, mich mehr um Kinder und Jugendliche hier vor Ort in Deutschland kümmern zu wollen und weniger Entwicklungshilfe zu leisten. Dieses Jahr feiern wir unser 10-jähriges Jubiläum.
Mit welcher Zielsetzung agiert das KinderRechteForum?
Mein 25-köpfiges Team und ich wollen die Rechte von Kindern und Jugendlichen nachhaltig stärken und schützen. Das tun wir auf vielfältige Weise. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der Kinderrechte in allen Lebensbereichen respektiert und gefördert werden, und widmen uns in unserer Arbeit den vier Schwerpunkten Digitalisierung, Demokratie, Gesellschaft und Nachhaltigkeit.
Wie gehen Sie konkret vor, um Kinderrechte in Deutschland zu stärken?
Das Herzstück unserer Arbeit ist unsere bundesweite, unabhängige Ombudsstelle zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Hier haben Kinder und Jugendliche, Familien, aber auch Fachkräfte die Möglichkeit, sich direkt an uns zu wenden, wenn es um Kinderrechtsverletzungen oder um Fragen rund um Kinderrechte geht. Wir dienen als Informations-, Anlauf- und Beschwerdestelle und sind per Telefon, Chat und Kontaktformular erreichbar.
Kinder und Jugendliche wenden sich also auch direkt an das KRF?
Ja. Wenn sich Kinder und Jugendliche individuell an uns wenden, ist oftmals gar nicht klar, ob es sich um eine Kinderrechtsverletzung handelt. Bei der Klärung dieser Frage helfen wir. Wir erklären zum Beispiel: „Bei deinem Problem geht es um das Recht auf Gesundheit. Und das kannst du jetzt tun.“ Wir leisten also auch viel Aufklärungs- und Informationsarbeit und managen nicht nur konkrete Beschwerden oder Rechtsverletzungen.
Was versteckt sich hinter Ihrer Plattform „helpando“ genau?
„helpando“ (www.helpando.org) ist eine digitale Hilfeplattform, mit der wir die Arbeit der Ombudsstelle erweitern. Kinder und Jugendliche in Deutschland sollen so noch einfacher Zugang zu Unterstützung erhalten. Wir beraten bei helpando z.B. auch per WhatsApp sicher und datenschutzkonform. Mittlerweile haben sich über 50.000 Nutzer auf helpando und der KRF-Webseite über Kinderrechte informiert.
Wie erreichen Sie Kinder und Jugendliche sonst noch?
Wir haben in den letzten Jahren zahlreiche Kampagnen zur Bekanntmachung unserer Hilfsangebote gelauncht. Unsere Kampagne „Such richtig!“ hing zum Beispiel in Bahnhöfen und an Bushaltestellen und erreichte über sieben Mio. Kinder und Jugendliche. Dabei ging es um die Stärkung der psychischen Gesundheit durch psychologische Ersthilfe bei Kindern und Jugendlichen – ein großes Thema in unserer Ombudsstelle. Einschließlich Social Media und anderen Kanälen haben wir in den 10 Jahren unserer Arbeit über 14 Mio. Kinder und Jugendliche addressiert. Es ist wichtig, dass sich Kinder und Jugendliche richtige Hilfe suchen und bei Problemen nicht nur googeln.
Hat die Zahl der Kinderrechtsverletzungen zugenommen?
Eindeutig. In den letzten 10 Jahren haben wir beim KRF rund 5500 Kinderrechtsverletzungen dokumentiert. Allein in den letzten drei Jahren haben wir einen Anstieg von 125 Prozent verzeichnet. Das liegt sicherlich an den Herausforderungen unserer Zeit. Wir leben in Zeiten multipler Krisen. 15 Prozent der Beschwerden, die aktuell bei uns eingehen, betreffen Klima- und Umweltanliegen. 25 Prozent davon sind direkt mit Klimaangst verbunden, d.h. mit den psychologischen Auswirkungen der Klimakrise. Viele spüren existenzielle Angst. Ein Fünftel aller eingehenden Beschwerden betreffen die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Welche Beschwerden hören Sie im KRF besonders häufig?
Manchmal geht es um Mobbing und Diskriminierungserfahrungen, etwa in der Klasse, Schule oder durch Erwachsene wie z.B. Lehrkräfte. Zunehmend oft erreichen uns auch Anfragen im Bereich der Bildungsbenachteiligung: Junge Menschen teilen uns mit, dass ihnen ihr Recht auf Zugang zu Bildung verwehrt wird. Laut einer aktuellen Statistik besuchen beispielsweise nur 5 Prozent der SchülerInnen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit die deutschen Gymnasien. Was ist mit den Themen sexuelle Gewalt und Missbrauch an Kindern? Auch die sind weiterhin aktuell. 2023 gab es knapp 3500 polizeilich erfasste Fälle von Misshandlungen und über 16.000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern. Die Zahl der Fälle von Kinderpornografie stieg im gleichen Jahr auf über 45.000 Fälle an. Angesichts dieser extremen Zahlen legen wir neben der Stärkung der mentalen Gesundheit unseren Schwerpunkt aktuell auf die Sexualisierung der Gewalt und Förderung präventiver Maßnahmen.
Sie haben in der Vergangenheit mit syrischen Geflüchteten im Libanon gearbeitet. Wie geht es geflüchteten Kindern heute in Deutschland?
Geflüchtete Kinder stehen oftmals vor einer drohenden Abschiebung. Der subsidiäre Schutz wird dann nicht anerkannt. Auch erhalten sie in der Regel nur die lebensnotwendige Gesundheitsversorgung. Das ist zwar schon mal gut, steht aber nicht immer im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention, die eine weitreichendere Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche vorsieht.
Häufig haben wir das Problem, dass die UN-Kinderrechtskonvention und die nationale Gesetzgebung nicht deckungsgleich sind, wodurch Missstände entstehen. Das KRF versteht es als seine politische Aufgabe, diese rechtlichen Gesetzeslücken zu schließen. Aus der Arbeit mit Betroffenen schöpfen wir viel Erfahrung und Wissen, können diese in politische Prozesse einbringen und so z.B. Gesetzgebungsverfahren positiv beeinflussen.
Was würde man in einem solchen Fall fehlender Gesundheitsfürsorge tun?
Da gibt es unterschiedliche Ansätze. Wir arbeiten in einem interdisziplinären Team aus Juristen, Pädagogen, Psychologen, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und nehmen als Besonderheit immer eine rundumfassende Beratung und Betrachtung aus all diesen Perspektiven vor. Daraus leiten wir konkrete Handlungsschritte ab. Diese reichen dann von psychologischer Ersthilfe – die bei traumatisierten Kindern besonders aufwendig ist – über Klageverfahren und Individualbeschwerden vor dem UN-Kinderrechtsausschuss bis hin zur Mediation.
Worin sehen Sie dabei die größte Schwierigkeit?
Der gesetzliche Rahmen gibt es oft nicht her, die Kinderrechte auf juristischem Weg einzuklagen. Obwohl die UN-Kinderrechtskonvention im Range einfachen Bundesrechts gilt, beziehen sich Gerichte mit Ausnahme des Europäischen Gerichtshofs auf die nationale Gesetzgebung, d.h. zum Beispiel auf das Grundgesetz und das SGB8. Insofern ist rechtliches Vorgehen nicht immer zielführend. Es braucht eher Erklärungsarbeit dahingehend, dass die UN-Kinderrechtskonvention als internationales Recht auch ein Recht ist, das in Deutschland gilt. Es muss Anwendung finden. Unsere Arbeit umfasst viel Interpretation, Mediation und Vermittlung.
Sind die Standards der UN-Kinderrechte höher als im deutschen Recht?
In vielen Bereichen ja. Das liegt daran, dass die Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention sehr weitreichend sind und eine breitere Spannweite vorgeben. Das sieht man z.B. bei der Berücksichtigung des Kindeswohls. „Kindeswohl“ hat nach deutscher Gesetzgebung und Auffassung die Bedeutung „Dem Kind geht es gut“. Dahingegen fordert die UN-Konvention ein Handeln nach den „besten Interessen des Kindes“, die in allen Belangen berücksichtigt werden. Das ist etwas fundamental Anderes.
Individuelle und rechtliche Beratung, Mediation und politische Lobbyarbeit: Wie finanziert sich das KRF?
Das variiert. Die deutschen Fördermittel für die Kinder- und Jugendhilfe werden meist als erstes gekürzt, insbesondere durch die Schuldenbremse. Vor dieser finanziellen Herausforderung stehen wir seit vielen Jahren. Gleichzeitig wachsen die Probleme und der Bedarf an der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Aktuell finanzieren wir uns durch einen Mix aus öffentlichen und privatrechtlichen Fördermitteln, letztere z.B. aus Stiftungen und natürlich Spenden von Privatpersonen und Unternehmen.
War das schon immer so?
Traditionell hatten wir über lange Zeit zu 80 Prozent eine öffentliche Förderung aus Bundesmitteln. Seit 2023 fließt jedoch kein Geld mehr in die Ombudsarbeit, weshalb wir seit zwei Jahren einen unternehmerischen Geschäftszweig mit Angeboten im Bereich der Unternehmens-, Organisations- und Politikberatung aufbauen. Wir beraten Kommunen und Ministerien zu Kinderschutzfragen und machen Projektmanagement für Stiftungen, Behörden, Vortragstätigkeiten und Fortbildungen. So finanzieren wir unsere nicht geförderte Arbeit. Natürlich wäre es besser, wenn die Politik ihrer Verantwortung in Zukunft wieder nachkäme.
Was müsste aus Ihrer Sicht politisch in Bezug auf Kinderrechte sonst noch passieren?
Ein zentraler Schritt wäre die explizite Verankerung der Kinderrechte im deutschen Grundgesetz. Zwar werden Kinderrechte indirekt geschützt, aber eine klare und eigenständige Formulierung der Kinderrechte im Grundgesetz würde deren rechtlichen Stellenwert erhöhen. Dies würde sicherstellen, dass die Interessen und Bedürfnisse von Kindern bei allen politischen und rechtlichen Entscheidungen stärker berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss auf nationaler und EU-Ebene dringend mehr getan werden, um die Ursachen von Kinderarmut zu bekämpfen, sowie eine bessere Unterstützung im Bereich der mentalen Gesundheit erfolgen. Nicht zuletzt würde ich mir ein klares politisches Bekenntnis und Anerkenntnis der Arbeit des KRF wünschen sowie eine langfristig gesicherte Finanzierung unserer Arbeit.
Vielen Dank für das Gespräch!