Der britische Premierminister Boris Johnson will das Coronavirus künftig anderen Infektionskrankheiten gleichstellen und auch die letzten staatlichen Maßnahmen aufheben. Wie Downing Street ankündigte, wollte Johnson noch am Montag (16.30 Uhr MEZ) im Parlament seinen Plan für ein „Leben mit Covid“ vorstellen. Zentraler Bestandteil ist, dass sich Corona-Infizierte im größten Landesteil England nicht mehr selbst isolieren müssen, wie britische Medien berichteten. Die Pläne stießen schon vor ihrer Veröffentlichung auf Kritik. Johnsons Ankündigung wurde zudem von der Corona-Infektion von Queen Elizabeth II. (95) überschattet.
Starker Druck aus der eigenen Partei
„Der heutige Tag markiert einen Moment des Stolzes nach einer der schwierigsten Zeiten in der Geschichte unseres Landes, indem wir beginnen zu lernen, mit Covid zu leben“, sagte der konservative Regierungschef der Mitteilung zufolge. Zuvor hatte er bereits so gut wie alle anderen Corona-Regeln aufgehoben. Schottland, Wales und Nordirland entscheiden eigenständig über ihre Maßnahmen und gehen oft einen etwas vorsichtigeren Weg als England, das keine eigene Regionalregierung hat.
Kritiker werfen Johnson vor, mit der Ankündigung vor allem parteiinterne Gegner wieder auf seine Seite ziehen zu wollen. Tory-Hardliner fordern seit Wochen ein Ende der Corona-Regeln. Mit dem früheren Brexit-Minister David Frost setzt ein weiteres Schwergewicht der Konservativen Partei den Premier seit Wochen unter Druck, alle staatlichen Vorschriften zu beenden. Johnson wird wegen der „Partygate“-Affäre um Lockdown-Partys in der Downing Street auch aus den eigenen Reihen zum Rücktritt aufgefordert.
Johnson appelliert an Eigenverantwortung der Bürger
Johnson hat sein Vorhaben am Wochenende verteidigt. Man habe einen Punkt erreicht, an dem man statt staatlicher Regeln an die Eigenverantwortung der Bürger appellieren könne, sagte der Premier der BBC. Nun verwies Johnson erneut auf den Erfolg der Impfkampagne. Mehr als 81 Prozent der Erwachsenen hätten bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten.
„Die Pandemie ist noch nicht vorbei“, betonte Johnson zwar. Vor allem für Ungeimpfte bleibe Covid eine gefährliche Krankheit. „Aber dank der unglaublichen Impfkampagne sind wir der Rückkehr zur Normalität jetzt einen Schritt näher gekommen und geben den Menschen endlich ihre Freiheit zurück, während wir uns und andere weiterhin schützen”, sagte Johnson.
Unter Experten stießen Johnsons Pläne auf Kritik. „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist“, sagte der Experte für öffentliche Gesundheit, Azeem Majeed, der Deutschen Presse-Agentur. „Aber wenn die Leute weiterhin vernünftig sind und sich weiter isolieren, wenn sie Symptome haben, werden die Auswirkungen erstmal überschaubar sein.“ Größere Sorgen macht sich der Mediziner mit Blick auf den nächsten Herbst und Winter, wenn nicht nur Viren Hochsaison haben, sondern auch die Immunität vieler Menschen durch Impfungen oder vorherige Infektionen abnimmt und dann Infizierte „frei zirkulieren“.
Kritik auch an Abschaffung kostenloser Tests
Eine Gruppe von Wissenschaftlern, die auch für das Beratungsgremium Sage arbeitet, warnte, das Ende der Isolationspflicht und das ebenfalls erwartete Ende von frei verfügbaren Schnelltests könne zu „einer Rückkehr zu einem rapiden epidemischen Wachstum“ führen. Die Modellierer teilten mit, die Infektionen könnten dadurch um 25 bis 80 Prozent zunehmen. Den an der Universität Warwick berechneten Modellierungen zufolge tragen Maßnahmen wie Isolation, Testen und Maskentragen und verstärktes Arbeiten von zu Hause dazu bei, das Ansteckungsrisiko um 20 bis 45 Prozent zu reduzieren.
Kritik kam auch von der Opposition. Der Labour-Gesundheitspolitiker Wes Streeting sagte am Sonntag dem Sender Sky News, die kostenlosen Tests abzuschaffen sei, als ob man in einem Fußballspiel zehn Minuten vor Spielende seinen besten Verteidiger austausche. Zuvor hatten sich bereits leitende Vertreter des britischen Gesundheitsdienstes NHS dagegen ausgesprochen, die Verfügbarkeit von kostenlosen Schnelltests zu beenden. Diese können bislang online nach Hause bestellt oder in Apotheken abgeholt werden.
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