Die weltweite Verbreitung des Coronavirus mit all ihren schrecklichen Auswirkungen hätte nach Ansicht unabhängiger Experten vermieden werden können. Zu diesem Schluss kommt der am Mittwoch in Genf vorgelegte Bericht eines internationalen Expertengremiums. Um die Ausbreitung verhindern zu können, wäre es aber erforderlich gewesen, die Warnsignale sofort zu beachten. Die WHO hätte früher Alarm schlagen und die einzelnen Länder konsequenter reagieren müssen, heißt es in dem Papier weiter.
„Die Situation, in der wir uns heute befinden, hätte verhindert werden können“, konstatierten die Experten. Die besondere Pikanterie daran: Das Gremium wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) selbst eingesetzt.
Ein „toxischer Cocktail“ aus Zaudern, fehlender Vorbereitung sowie schlechter Reaktion auf die Krise sei für deren nunmehriges dramatisches Ausmaß verantwortlich, erklärte die Ko-Präsidentin des Gremiums, Ellen Johnson Sirleaf. Nur so habe sich die jetzige „katastrophale humanitäre Krise“ entwickeln können, die von den Experten als „Tschernobyl des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet wird.
An den Folgen einer Corona-Infektion starben weltweit inzwischen mindestens 3,3 Millionen Menschen. Staatliche Institutionen hätten vielerorts „versagt in der Aufgabe, Menschen zu schützen“, heißt es in dem Bericht. Zudem hätten „Erkenntnisse der Wissenschaft leugnende Staats- und Regierungschefs“ beziehungsweise andere verantwortliche Akteure das Vertrauen in die nötigen Maßnahmen zersetzt.
„Schlechte strategische Entscheidungen, fehlender Wille“
„Schlechte strategische Entscheidungen, fehlender Wille zur Bekämpfung von Ungleichheiten und ein unkoordiniertes System schufen einen toxischen Cocktail, der es der Pandemie erlaubte, sich in eine katastrophale humanitäre Krise zu entwickeln“, erklärte die ehemalige liberianische Präsidentin Sirleaf, die gemeinsam mit der früheren neuseeländischen Premierministerin Helen Clark das Gremium leitet. „Es gab eine Spirale von Versagen, Lücken und Verzögerungen bei der Vorbereitung und der Reaktion.“
Das Gremium aus 13 Experten war nach heftiger Kritik an der WHO von dieser ins Leben gerufen worden. Es untersuchte acht Monate lang die Ausbreitung des Coronavirus und die von der WHO und den einzelnen Staaten ergriffenen Maßnahmen.
Die WHO war bereits im Vorjahr oft kritisiert worden, vor allem zu Beginn zu langsam reagiert zu haben. Der damalige US-Präsident Donald Trump hatte als Konsequenz daraus sogar den - mittlerweile von seinem Nachfolger Joe Biden revidierten - Austritt der USA aus der Organisation verkündet. Auch die von ihr beauftragten Experten kamen nun zu dem Schluss, dass die WHO den weltweiten Gesundheitsnotstand früher als am 30. Januar 2020 hätte ausrufen müssen.
Allerdings betonte die Ko-Vorsitzende Clark, dass dies wahrscheinlich nicht viel geändert hätte. Ohnehin hätten viele Länder erst reagiert, nachdem die WHO im März 2020 die Epidemie zur weltweiten Pandemie erklärt habe.
„Ganz klar Verzögerungen in China“
Kritik richteten die Experten jedoch auch an das kommunistische Regime in Peking. So habe es unmittelbar nach dem erstmaligen Auftreten des neuartigen Coronavirus Ende 2019 in Wuhan „ganz klar Verzögerungen in China“ gegeben, konstatiert Clark. „Aber letztlich gab es überall Verzögerungen“, relativierte sie jedoch auch. Ohne all diese Verzögerungen „würden wir jetzt nicht diese Ausmaße haben“.
Das Expertengremium zog allerdings nicht nur Bilanz, sondern richtete das Augenmerk auch in die Zukunft: Um das Virus weltweit einzudämmen, müssten die reichen Länder, in denen die Impfkampagne schon weit fortgeschritten sei, bis zum 1. September mindestens eine Milliarde Impfdosen an die ärmsten Staaten der Welt spenden. Mehr als zwei Milliarden weitere Dosen sollten bis Mitte 2022 zur Verfügung gestellt werden, forderten sie.
Zudem sollen nach Auffassung der Experten Vakzin-Produzenten freiwillig ihr Wissen weitergeben und beim Aufbau von Produktionskapazitäten helfen. „Wenn es da innerhalb von drei Monaten keinen Fortschritt gibt, sollte es eine Aussetzung des Patentschutzes geben“, heißt es in dem Bericht.