Im Betrugsprozess um die milliardenschwere Pleite des Finanzkonzerns Wirecard hat der angeklagte Manager Oliver Bellenhaus Anschuldigungen gegen den ehemaligen Firmenchef Markus Braun erhoben. Dieser sei getrieben gewesen davon, die Umsatzzahlen ins Unermessliche steigen zu lassen, sagte Bellenhaus am Montag vor dem Landgericht München. Braun sei ein absolutistischer CEO und die zentrale Macht gewesen. „Es war stets Dr. Brauns Strategie und damit der Wirecards, möglichst viele falsche Fährten zu legen.“ Bellenhaus sprach von „Hasardeuren, Kriminellen und Verrätern“ bei Wirecard. Den veruntreuten Betrag bezifferte er mit mindestens 2,5 Milliarden Euro - mehr als die von Treuhandkonten verschwundenen 1,9 Milliarden Euro, die bisher im Zentrum der Ermittlungen standen.
In seiner fünfstündigen Aussage, die am nächsten Prozesstag am Mittwoch fortgesetzt werden soll, schilderte Bellenhaus detailliert, wie aus seiner Sicht das sogenannte Drittpartner-Geschäft (Third Party Acquirers, TPA) bei Wirecard fingiert wurde, um Umsätze vorzuspiegeln und Wirtschaftsprüfer zu täuschen. In den vier Jahren bis Ende 2019 sei dafür ein Bruttovolumen von mindestens 130 Milliarden Euro ausgewiesen worden. Hätte es dieses TPA-Geschäft tatsächlich gegeben, so hätte dies einen „ausgedehnten Kundenstamm und eine sehr wertvolle technische Infrastruktur“ vorausgesetzt, erläuterte Bellenhaus. Nach der Pleite von Wirecard habe sich aber kein Geschäftspartner aus diesem Bereich beim Insolvenzverwalter gemeldet, um Schadenersatz zu fordern.
Der 49-Jährige war Statthalter von Wirecard in Dubai und gilt in dem Prozess als Kronzeuge. Er hatte sich bereits kurz nach der Pleite von Wirecard im Sommer 2020 den Münchner Behörden gestellt und gegenüber der Staatsanwaltschaft umfassend ausgesagt. Seine Anwälte hatten dafür einen Strafnachlass und seine Entlassung aus der Untersuchungshaft verlangt, was das Gericht und die Staatsanwaltschaft abgelehnten. Bellenhaus sitzt seit knapp zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Er räumte ein, Protokolle und E-Mails gefälscht zu haben, um eine Dokumentenlage zur Täuschung der Wirtschaftsprüfer zu schaffen. Die Protokolle seien genutzt worden, um Angaben zum Jahresende zu korrigieren.
Der 53-jährige Österreicher Braun sieht sich dagegen als Opfer von Managern um den flüchtigen ehemaligen Vorstand Jan Marsalek, die Milliarden beiseitegeschafft hätten. Er beharrt darauf, dass das Geschäft mit Drittpartnern in Asien auch nach 2015 existiert hat. Eine Aussage Brauns vor Gericht stellte Richter Markus Födisch für Anfang kommenden Jahres in Aussicht.
Eine Hotelsuite an einem abgelegenen Ort in Dubai
Im Gerichtssaal in München hatten Bellenhaus und Braun den Platz getauscht. Bellenhaus, in grauem Anzug mit Krawatte, saß vor seinem ehemaligen Chef, der wie immer mit schwarzem Rollkragenpullover und dunkelblauem Anzug kam. Bellenhaus entschuldigte sich zu Beginn seiner Erklärung. Es falle nicht leicht, die Verantwortung zu übernehmen. Er bedauere die Konsequenzen für die Geschädigten und für ihn und seine Familie. „Eine blinde Loyalität gegenüber Braun und Marsalek hat mich ins Gefängnis gebracht“, sagte er. „Ich bin erschrocken über mein eigenes Wesen.“
Bellenhaus gab Einblicke, wie er und seine Kollegen sich auf eine Untersuchung durch die Wirtschaftsprüfer von KPMG vorbereitet hätten. Auf die Anweisung Marsaleks habe er die für das große Geschäftsvolumen nötige Datenmenge neu erstellen sollen. Dafür habe er eine Hotelsuite in Dubai gemietet, um von dort einen Datengenerator zu betreiben. Er habe einen abgelegenen Ort gesucht, um nicht zufällig Investigativ-Journalisten oder anderen Wirecard-Mitarbeitern in die Arme zu laufen. Doch der Plan ging laut Bellenhaus nicht wie gehofft auf. „In der Realität merkten wir sehr schnell, dass die Technik, die wir benötigen, in der gesamten GCC-Region nicht zur Verfügung stehen würde“, sagte Bellenhaus.
Brauns Anwalt Alfred Dierlamm forderte unterdessen erneut die Aussetzung des Verfahrens. Die Prozessbeteiligten würden weiterhin mit Unterlagen und Daten „überflutet“. Er sprach von hochgerechnet 19.000 Seiten Ermittlungsakten, welche die Verteidigung zwei Tage vor der Vernehmung von Bellenhaus erhalten hätten. Die Ermittlungen, die parallel geführt würden, seien ein "Fass ohne Boden". Der Aufschub der Ermittlungen habe nur dem Zweck gedient, die Frist des Oberlandesgerichts zur Anklageerhebung einzuhalten: „Es durfte unter keinen Umständen die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Untersuchungshaft von Markus Braun gefährdet werden.“ Der Richter sagte, er werde in diesem Jahr nicht mehr über den Aussetzungsantrag entscheiden.
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