11.08.2020, Hessen, Hanau: Unter dem Brüder Grimm-Denkmal auf dem Hanauer Marktplatz wird an die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags vom 19. Februar erinnert. (dpa)
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Auch an diesem heißen Sommertag im August halten Menschen inne und betrachten die Bilder der Toten. Einzelne Passanten, Paare und Familien kommen, manche fotografieren, es wird über die Tat gesprochen. Am Brüder Grimm-Denkmal in der Hanauer Innenstadt ist der Schock noch immer greifbar, den der rassistisch motivierte Anschlag vom 19. Februar ausgelöst hat.
Der 43-jährige Deutsche Tobias R. erschoss damals neun Menschen an mehreren Orten in der Stadt. Danach soll er auch seine Mutter umgebracht haben, bevor er sich selbst tötete. Auch ein halbes Jahr später verstört die Tat. Viele wollen ihre Anteilnahme, ihr Mitgefühl mit den Hinterbliebenen ausdrücken. „Das sollte nicht vergessen werden“, sagt beispielsweise Ivo Antignone, der regelmäßig am Brüder Grimm-Denkmal ist und einige Minuten hier verweilt.
Gegen das Vergessen macht sich auch Ferdi Ilkhan stark. Seit den dramatischen Ereignissen sind er, seine Frau und die anderen Mitglieder des Hanauer Ausländerbeirats unermüdlich im Einsatz, um die Menschen zu unterstützen, die in jener Nacht Angehörige verloren haben oder selbst verletzt wurden. Sie organisieren Treffen und Gespräche, empfangen Politiker und Besuchergruppen, die sich ein Bild von der Stadt machen wollen, leisten Hilfe bei Behördenangelegenheiten und spenden den Hinterbliebenen Trost und Beistand. „Wir haben versucht, eine Art Brückenfunktion einzunehmen“, sagt Ilkhan.
Eines der wichtigsten Anliegen ist ihm dabei, dass aus der Trauer der Menschen nicht Wut wird, wie Ilkhan sagt. Denn er weiß aus seinen Gesprächen, dass es in der Gruppe der Angehörigen rumort. Viele von ihnen kritisieren die Ermittlungsarbeit der Behörden und verlangen immer deutlicher Antworten auf ihre Fragen. So hatte Tobias R. vor der Tat Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht. Darin behauptet dieser unter anderem, Deutschland werde von einem Geheimdienst gesteuert und äußerte sich negativ über Migranten aus arabischen Ländern und der Türkei. Warum wurde dem nicht nachgegangen? Wie kam der unter Wahnvorstellungen leidende Sportschütze an eine Waffenbesitzkarte und warum wurde diese im vergangenen Jahr nach einer Überprüfung verlängert?

Diese Fragen lassen auch Armin Kurtović nicht los, dessen Sohn Hamza bei dem Anschlag getötet wurde. Den ermittelnden Behörden wirft er eine „Kette des Versagens“ vor, für die bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden sei. Das Waffengesetz, so der Familienvater, sei eigentlich streng genug - aber im Falle des Täters sei es nicht richtig umgesetzt worden. „Was muss denn noch passieren?“, fragt Kurtović und fügt hinzu: „Kein Mensch sollte diesen Schmerz fühlen, den ich fühle.“

Beuth versucht „alles schönzureden“ Wie viele andere Hinterbliebene will er am 22. August bei einer Demonstration der Opfer gedenken, aber auch seinen Unmut über die Behörden zum Ausdruck bringen. „Wir fordern: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“ heißt es in dem Aufruf zu der Veranstaltung, der in vielen Schaufenstern und Lokalen im Zentrum der Stadt ausgehängt ist. Die Kritik der Angehörigen richtet sich auch gegen die Polizeiarbeit und gegen Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), der versuche, „alles schönzureden“, wie Çetin Gültekin, Bruder eines der Getöteten, kürzlich der „taz“ sagte.

11.08.2020, Hessen, Hanau: Der Aufruf zu einer Gedenk- und Demonstrationsveranstaltung für die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau vom 19. Februar liegt unter Blumen am Brüder Grimm-Denkmal. (DPA)

Der Minister wirbt derweil um Vertrauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Die schreckliche Tat vom 19. Februar in Hanau hat unser Land ins Mark getroffen. Wir werden weiter alles daransetzen, dass uns diese schreckliche Terrortat als Gesellschaft nicht spaltet, sondern nur noch stärker eint“, erklärt Beuth. Das Land stehe an der Seite der Opferfamilien. ' Zugleich stellt sich Beuth hinter die hessische Polizei, die noch in der Tatnacht eine umfangreiche Opfer- und Angehörigenbetreuung in Hanau auf die Beine gestellt habe. Wegen der besonderen Bedeutung des Falls und der rassistischen Motivation des Täters hatte der Generalbundesanwalt in Karlsruhe noch in der Tatnacht die Ermittlungen an sich gezogen. Über den Stand der Untersuchungen ist dort derzeit nicht viel zu erfahren. „Die Ermittlungen dauern an“, lässt ein Sprecher lediglich wissen. Ohnehin hatte die Corona-Pandemie den Hinterbliebenen und den bei dem Anschlag Verletzten und ihren Angehörigen in den vergangenen Monaten massiv zu schaffen gemacht. Monatelang herrschte praktisch Stillstand, psychotherapeutische Begleitung war kaum zu bekommen, weil viele Therapeuten ihre Praxen schlossen, Begegnungen und persönliche Gespräche wurden erschwert oder ganz unmöglich gemacht, wie Ilkhan sagt. Und das, obwohl gerade hier persönlicher Kontakt und Begleitung dringend nötig gewesen wäre. „Viele Familien haben gar keinen Bezug mehr zu ihrem Alltag“, erklärt der 38-Jährige. Auch auf anderen Ebenen gehe es mit der Hilfe noch immer schleppend voran. „Bei vielen ist die Wohnungssuche noch immer akut.“ Zwar seien den Familien, die in Hanau bleiben möchten, neue Wohnungen angeboten worden, aber die seien teils zu klein oder zu teuer. Auch die finanziellen Hilfen, etwa für die Kinder der bei dem Anschlag getöteten Mercedes Kierpacz, seien zu gering. Beuth sichert nun weitere Unterstützung zu: „Wir werden sehr zeitnah ein Förderprogramm für Hanau auflegen, um die Betreuung der Hinterbliebenen und Opfer über mehrere Jahre zu verstetigen“, beteuerte der Minister. Um dem Gedenken einen angemessenen Rahmen zu geben, steht in Hanau nun auch die Umsetzung des geplanten Mahnmals an. Noch etwa acht Wochen lang läuft eine Ausschreibung für die Gedenkstätte, die nach den Wünschen der Opferfamilien gestaltet werden soll. Als Ort dafür war zunächst der Hanauer Hauptfriedhof im Gespräch, aber die Angehörigen wünschen sie sich an einem anderen Ort - zentral in der Stadt.

dpa