In den Skandal um mutmaßlichen sexuellen Missbrauch in dem früheren katholischen Piusheim für Kinder und Jugendliche in Oberbayern schaltet sich nun auch die Bundesregierung ein.
Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig hat den Erzbischof der zuständigen Diözese München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, in einem persönlichen Brief gebeten, jenseits der Strafverfolgung auch die schon verjährten Fälle aufzuarbeiten. „Ich wollte ihm klar sagen, dass ich es wichtig fände, wenn er jetzt ein starkes Signal pro unabhängige Aufarbeitung setzen würde“, sagte Rörig. Marx habe auf seinen Brief auch geantwortet. „Aber dieses starke Signal hat er leider noch nicht gesetzt. Ich weiß nicht, warum er es nicht gesendet hat, aber das wäre zu Ostern ein immens wichtiges Signal für die Betroffenen gewesen.“
„Kardinal Marx will eine unabhängige Aufklärung“
Marx' Sprecher Bernhard Kellner bestätigte, dass der Erzbischof auf Rörigs Brief geantwortet hat. „Kardinal Marx will eine unabhängige Aufklärung“, betonte er. Das Erzbistum München und Freising sei das erste gewesen, das 2010 einen unabhängigen Bericht in Auftrag gegeben habe. Im Februar sei außerdem ein weiterer Bericht angekündigt worden, der auch neu bekannt gewordene Vorwürfe - wie jetzt auch über das Piusheim - aufarbeiten solle. Im Gegensatz zum ersten Bericht soll der neue dieses Mal veröffentlicht werden.
Derzeit laufe ein Beratungsprozess innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), wie unabhängige Aufklärung einheitlich in allen Bistümern aussehen kann, sagte Kellner. Der Ständige Rat der DBK entscheide in seiner Sitzung Ende April darüber. Dem wolle Marx nicht vorgreifen. Das Piusheim ist inzwischen - 14 Jahre nach seiner Schließung - ins Visier der Justiz geraten. Die Staatsanwaltschaft München II hat Vorermittlungen gegen einen ehemaligen Erzieher und einen damals angehenden Priester aufgenommen, nachdem ein heute 56-Jähriger vor Gericht schwere Vorwürfe gegen sie erhoben hatte.
Erzbistum München wusste von neun Verdachtsfällen
Seit Bekanntwerden der Vorermittlungen melden sich immer mehr ehemalige Bewohner bei der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“. Bei der am bayerischen Landesjugendamt angesiedelten Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder hatten sich über die Jahre schon 28 ehemalige Piusheim-Bewohner gemeldet, das Erzbistum München wusste von neun Verdachtsfällen. Auch bei der Staatsanwaltschaft hat sich inzwischen ein weiterer mutmaßlich Betroffener gemeldet.
Überrascht sei er von den Vorwürfen nicht, sagte Rörig: „Wenn man jahrelang in dem Feld arbeitet, kann man sich leider inzwischen alles vorstellen.“ Dass es gerade in Kinderheimen früher immer wieder zu Gewalt und auch zu Missbrauch kam, sei bekannt. „Ich schließe niemals aus, dass vergleichbare große Fälle zu Tage treten.“ Er forderte unabhängige Aufarbeitungskommissionen in allen Bistümern, an der auch Betroffene beteiligt sind. „Wichtig ist, dass diese Kommissionen unabhängig arbeiten und selbst Akten einsehen können und dass die Veröffentlichungen ihrer Ergebnisse nicht der Zustimmung des jeweiligen Bistums bedürfen.“
Missbrauchsfälle nach einheitlichen Standards aufarbeiten
Seine Hoffnung setze er jetzt auf den Ständigen Rat der DBK, der Ende des Monats über die gemeinsame Erklärung abstimmen wolle, die Rörig zusammen mit dem DBK-Missbrauchsbeauftragten, Bischof Stephan Ackermann, erarbeitet hat. Alle 27 katholischen Bistümer in Deutschland sollten sich danach verpflichten, Missbrauchsfälle nach einheitlichen Standards systematisch durch unabhängige Kommissionen aufarbeiten zu lassen.
„Dabei geht es um die konkrete Klärung einzelner Fälle und auch um die Frage, wer wen gedeckt hat“, betonte Rörig. Die sogenannte MHG-Studie zum Missbrauchsskandal, die die DBK 2018 vorgestellt hat, könne nur ein Anfang sein, sagte er. „Das Kindern angetane Unrecht muss benannt und anerkannt werden.“
Er habe gehofft, Marx könne die Vorwürfe gegen das Piusheim zum Anlass nehmen, seine „starke Stimme“ zu erheben und vor der Zusammenkunft des Ständigen Rates ein klares Signal für die Schaffung unabhängiger diözesaner Aufarbeitungskommissionen zu setzen. Sollte die gemeinsame Erklärung im Rat nicht angenommen werden, „würde das die Aufarbeitung extrem zurückwerfen“, sagte Rörig. „Aber ich bin weiterhin hoffnungsvoll.“